Deutschland: Pisa-Schock und Lehrermangel in Schulen
Veröffentlicht 5. Dezember 2023Zuletzt aktualisiert 5. Dezember 2023Rebecca ist Lehrerin und das seit mehr als dreißig Jahren. An einem Gymnasium in der Nähe von Hamburg unterrichtet sie Englisch und Geschichte. Immer häufiger auch nur Englisch, weil keine anderen Fachlehrer verfügbar sind. Englisch hat Priorität gegenüber dem Fach Geschichte, das dann ausfallen muss - manchmal monatelang.
"Wir sind ständig unterbesetzt. Aushilfslehrer, die temporär vertreten, gibt es auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr", sagt Rebecca, die eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben will. "Die Schulleitung findet für offene Stellen kein Personal und häufig sind auch noch Kolleginnen und Kollegen wochen- oder monatelang krankgeschrieben, weil die Arbeitsbelastung sie in den Burn-Out getrieben hat."
Pisa-Studie mit erschreckenden Ergebnissen
Die Folge: Fächer fallen zeitweise komplett weg; erste Schulen führen die Vier-Tage-Woche für Schüler ein. Besonders eklatant ist der Lehrermangel an den Grundschulen. Ausgerechnet dort, wo Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen. In der jüngsten Pisa-Studie, in der die OECD regelmäßig die Lernleistungen von 15-jährigen Schülern im internationalen Vergleich bewertet, schneiden Deutschlands Schüler in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz so schlecht ab wie noch nie.
"Die Ergebnisse sind besorgniserregend", erklärt die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Berliner Senatorin für Bildung, Katharina Günther-Wünsch (CDU). Als Gründe führt sie vor allem die langen Einschränkungen des Schulbetriebs durch Corona ins Feld und die Tatsache, dass die Schülerschaft heterogener geworden sei und der Anteil von Schülerinnen und Schülern aus Familien mit sozialen Risikolagen stark zugenommen habe.
Für die Bildungsgewerkschaften gibt es einen weitaus wichtigeren Grund für das Ergebnis der Pisa-Studie. "Jetzt zeigt sich, was Mangel heißt", erklärte der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft "Verband Bildung und Erziehung", Gerhard Brand. "Vertretungsstunden und Schulausfall haben Konsequenzen."
Niedersachsen ist nicht Schleswig-Holstein
Bundesweit fehlen zehntausende Lehrkräfte. Wie viele es genau sind, weiß allerdings niemand. Bildung ist im föderalen Deutschland Sache der 16 Bundesländer. Es gibt einige Unterschiede, auch bei den Unterrichtsstunden der Lehrer. Einheitliche Berechnungen sind deswegen schwierig.
Ein Beispiel: An einem Gymnasium in Niedersachsen entsprechen 23,5 Unterrichtsstunden pro Woche einer Vollzeitstelle, im benachbarten Schleswig-Holstein sind es 25 Stunden. An Grundschulen sind deutlich mehr Unterrichtsstunden zu leisten als an Haupt- oder Gesamtschulen oder an Gymnasien, wo die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts aufwendiger ist.
Widersprüchliche Rechnungen
Die Kultusministerkonferenz, das Gremium, in dem sich die Bildungsministerinnen und -minister in bundesweit relevanten Fragen abstimmen, geht aktuell von rund 14.000 unbesetzten Vollzeitstellen aus. Ab 2025 wird ein zusätzlicher Bedarf von 21.000 Lehrkräften jährlich angenommen, der bis 2035 in etwa gleichbleiben soll.
Ökonomen, Bildungswissenschaftler, aber auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) halten das für zu optimistisch. "Die Lücke zwischen Lehrkräftebedarf und Lehrkräfteangebot wird bis 2035 auf gut 56.000 Vollzeitstellen anwachsen", rechnet Gewerkschafterin Anja Bensinger-Stolze gegenüber der DW vor.
Laut Statistischem Bundesamt wurden 2023 mit 830.600 Erstklässlern so viele Kinder eingeschult, wie seit 20 Jahren nicht mehr. In den kommenden zehn Jahren soll sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die eine Schule besuchen, von elf auf zwölf Millionen erhöhen.
Der Anstieg ist zum Teil auf höhere Geburtenzahlen zurückzuführen, vor allem aber auf die verstärkte Zuwanderung nach Deutschland. Zum Jahresende 2022 gab es bundesweit gut vier Prozent mehr Kinder zwischen fünf und sieben Jahren als im Vorjahr. Die Zahl deutscher Kinder in dieser Altersgruppe hatte sich dabei gegenüber dem Vorjahr kaum erhöht. Die Zahl von Kindern mit ausländischer Staatsangehörigkeit allerdings war um mehr als 20 Prozent gestiegen.
Mehr Schüler mit mehr Ansprüchen - bei weniger Lehrern
Verschärft wird die Situation, weil Grundschulkinder ab 2026 einen Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung haben. Hochgerechnet könnte sich die Zahl der insgesamt unbesetzten Stellen in deutschen Schulen bis 2035 auf insgesamt eine halbe Million addieren, rechnet die GEW vor.
Für die Ausbildung von Lehrkräften sind die Bundesländer verantwortlich, die Studienplätze an ihren Hochschulen und Universitäten finanzieren. Doch die Abschlüsse sind bundesweit anerkannt. Für die Politiker habe das Einsparmöglichkeiten eröffnet, erklärt Bensinger-Stolze. "Nahezu alle Bundesländer bilden seit Jahren weniger Lehrkräfte aus als sie absehbar selbst benötigen. Jedes verlässt sich auf die anderen."
In der Not werden an den Schulen nun immer mehr Seiteneinsteiger eingestellt, also Personen, die kein Lehramtsstudium absolviert haben, sondern aus anderen Berufen kommen. Gleichzeitig geht die Zahl der Lehramts-Studierenden aus demografischen Gründen zurück - und weil der Beruf zunehmen weniger attraktiv erscheint.
Attraktivität durch Mehrarbeit?
Eine Situation, die sich durch die Vorschläge der Kultusministerkonferenz zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels noch verschärfen könnte. Die laufen nämlich darauf hinaus, dass Lehrer in Zukunft vor allem mehr und länger arbeiten sollen. Durch eine Erhöhung der Unterrichtsstunden, einen späteren Ruhestand und die Abschaffung von Teilzeitarbeit.
Aktuell haben rund 40 Prozent der Lehrer ihre Arbeit- und Unterrichtszeit reduziert. Auch Lehrerin Rebecca unterrichtet nur 23,5 statt der üblichen 25 Schulstunden pro Woche. "Der Unterricht, die Vor- und Nachbereitung, die Korrektur von Klassenarbeiten und Klausuren - damit komme ich auf mehr als 40 Wochenstunden", resümiert sie. Dazu kommen Verwaltungsaufgaben. "Wenn ich eine Klassenfahrt vorbereite, stehe ich auch mal eine Stunde im Reisezentrum der Bahn, um Fahrkarten zu kaufen."
Migration fordert
Insgesamt hätten sich die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Die Klassen seien größer geworden, der Unterricht aufwändiger. "Wir haben mehr Schüler mit Migrationshintergrund, die stärker gefördert werden müssen, weil sie von zuhause nicht so viel Unterstützung bekommen können."
Viel Kraft fordern Auseinandersetzungen mit Jugendlichen. "Ich lasse mich nicht davon beeindrucken, wenn mir Schüler mit muslimischem Hintergrund sagen, dass sie sich von mir nichts sagen lassen", sagt Rebecca. "Aber so etwas kommt auch von Eltern! Und junge Kolleginnen und Kollegen, die gerade erst als Lehrer in den Beruf gestartet sind, die sind oft überfordert."
Laut der Gewerkschaft nimmt die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer zu, die an ihrer Berufswahl zweifeln und Konsequenzen ziehen. Beratungsbedarf zu "Exitstrategien" habe es früher nicht gegeben.
Beruf attraktiver machen
Die Gewerkschaft hat einen 15-Punkte-Plan vorgelegt, um den Lehrberuf wieder attraktiver zu machen. Er liest sich wie ein Gegenentwurf zu den Vorschlägen der Kultusministerkonferenz. Da wird auf die Senkung der Arbeitszeit gedrängt, auf kleinere Klassen, mehr Ausgleichsstunden, einen besseren Gesundheitsschutz und Entlastungssysteme für Lehrkräfte.
Darunter sind Teams zu verstehen, in denen Lehrer unter anderem mit Sozialpädagogen, Erziehern und Psychologen, aber auch mit Dolmetschern und herkunftssprachlichen Lehrkräften zusammenarbeiten.
Zuwanderung in den Lehrberuf
"Wir fordern schon lange, die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse von Lehrkräften zu verbessern und zu beschleunigen", sagt Anja Bensinger-Stolze auch mit Blick auf ukrainische Geflüchtete, die bislang in deutschen Schulen kaum eine Chance hatten. "Wenn Lehrkräfte nur ein Unterrichtsfach haben - im Ausland ist das der Regelfall - darf das kein Ausschlusskriterium sein."
Insgesamt macht die Gewerkschaft wenig Hoffnung, dass sich die Lage an den Schulen kurzfristig ändern lässt. Dafür hätten die Verantwortlichen in der Politik die Lage einfach zu lange auf die leichte Schulter genommen.