Deutschland 1990 - Korea 20XX?
25. September 2015Es werden immer weniger. Immer weniger Menschen, die sich noch daran erinnern können, dass die Koreanische Halbinsel einmal EIN Land war. Die diese Zeit selbst erlebt haben, sind heute alte Leute. Sie leben diesseits und jenseits der Grenze, oft abgeschnitten von ihren Verwandten auf der anderen Seite. Räumlich manchmal nur durch wenige - unüberwindbare - Kilometer getrennt. Gleichzeitig Welten voneinander entfernt.
Ein Bild, das auch in Deutschland Erinnerungen an die eigene Vergangenheit weckt. Von der deutschen Erfahrung können auch andere Länder profitieren, glaubt eine Mehrheit der Deutschen. Das geht aus einer im Auftrag der DW erhobenen Umfrage hervor: Demnach sind 82 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Überwindung der innerdeutschen Teilung nach 40 Jahren Teilung 1990 Vorbildcharakter hat - und als Modell dienen könnte. Auch für Korea?
Korea ist nicht Deutschland
Nein, ist Dr. Han Un-Suk überzeugt. Er ist Dozent am Asien-Orient-Institut der Universität Tübingen. In der derzeitigen Lage sei es unmöglich, das deutsche Modell auf Korea zu übertragen, erklärt er gegenüber der DW. "Nordkorea wird in absehbarer Zeit nicht zusammenbrechen. China als Verbündeter Nordkoreas ist nicht die Sowjetunion von 1989/90." Ein geteiltes Korea liege außerdem auch im Interesse der japanischen Macht- und Realpolitiker: Ein wiedervereintes Land an der Seite Chinas wäre für sie ein Schreckgespenst. "Außerdem gibt es in Ostasien keine regionale Sicherheitskonferenz wie die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die die kollidierenden Interessen zu einem Kompromiss bringen und konstruktiv zur Vereinigung beider Teile der Halbinsel beitragen könnte," ergänzt der Asien-Wissenschaftler.
Und noch einen Unterschied zu Deutschland sieht Han: Aufgrund des Korea-Krieges von 1950-53 seien die ideologischen Konflikte zu stark ausgeprägt, sowohl zwischen Nord und Süd, als auch innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft. "Die Gesellschaft hat das von den konservativen Medien vorherrschende dämonisierte Nordkorea-Bild übernommen. Das Bemühen, Nordkorea objektiv zu beurteilen, ist schwach."
Diplomat Rolf Mafael ist ähnlicher Meinung. Er ist seit Sommer 2012 deutscher Botschafter in Seoul. Zwar gebe es Gemeinsamkeiten, was die historisch-ideologischen Rahmenbedingungen angeht, die während des Kalten Krieges zur Teilung geführt hätten, so Mafael im DW-Interview. "Aber es gibt auch bedeutsame Unterschiede. West- und Ostdeutschland haben nie gegeneinander Krieg geführt. Zwischen den Bevölkerungen konnten Kontakte und Austausch stattfinden, waren deshalb viel stärker und haben sich über Jahrzehnte etabliert.
Zwei Länder, zwei Systeme – seit Jahrzehnten
Die Teilung Koreas ist dagegen seit fast sieben Jahrzehnten förmlich in Stein gemeißelt: Seit 1948 gibt es offiziell zwei koreanische Staaten. Von 1950 bis 1953 kämpften sie in einem erbitterten Krieg gegeneinander, der völkerrechtlich noch nicht vorüber ist. Ein Friedensvertrag wurde nie unterzeichnet, lediglich ein Waffenstillstandsabkommen.
Auf der politischen Agenda der amtierenden südkoreanischen Präsidentin Park Geun-Hye steht das Thema Wiedervereinigung demonstrativ weit oben. Mehrfach sprach sie es in der Vergangenheit öffentlich an. Zum Beispiel bei ihrem Deutschland-Besuch im Frühjahr 2014: "Wir sind ein Volk", sagte sie bei einer Rede in Dresden auf Deutsch. Ein geflügeltes Wort aus der Zeit nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. "Der Tag wird kommen, an dem diese mächtigen Worte, die die Menschen im Osten und Westen Deutschlands vereinten, auf der Koreanischen Halbinsel widerhallen."
Von Deutschland lernen – auch aus den Fehlern
Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung kam schnell damals, quasi über Nacht. Unvorstellbar im Fall Koreas. Für eine Wiedervereinigung der Halbinsel bräuchte es viel Zeit, sagt Han. "Das sollte langfristig und behutsam vorbereitet und geplant werden. Zuerst sollten wir unsere Sozialpolitik radikal verändern. Ohne diesen Schritt würde eine Vereinigung zu gefährlichen sozialen Konflikten und möglicherweise zu einer Katastrophe führen."
Sollte tatsächlich eines Tages aus Nord- und Südkorea wieder ein Land werden, könnte nach Meinung des Tübinger Experten Deutschland als Vorbild wichtig werden. Man solle sich anschauen, was damals in Deutschland passiert ist, was gut lief – und was eben auch nicht: "Zum Beispiel bei der Privatisierung von staatlichen Betrieben sollten wir anders vorgehen. Und beim Vereinigungsprozess sollten wir uns darum bemühen, eine möglichst große Beteiligung der nordkoreanischen Eliten zu erreichen." Bei der nordkoreanischen Bevölkerung dürfe nicht der Eindruck entstehen, kolonialisiert zu werden.
Kaum Interesse an der Wiedervereinigung?
In der südkoreanischen Bevölkerung wird das Thema Wiedervereinigung sehr unterschiedlich bewertet. "Bei den jüngeren Generationen ist das Interesse deutlich weniger stark ausgeprägt als bei den Älteren, deren eigene Lebenserfahrung sich unmittelbar mit der Teilung des Landes überschneidet", erklärt Rolf Mafael. Auch die Fragen, die sich im Zusammenhang damit stellen, seien ganz unterschiedlich gelagert: "Bei den Jüngeren bestimmt häufig die Sorge um mögliche wirtschaftliche Belastungen die Diskussion."
Dazu tragen auch die Medien bei, sagt Han Un-Suk. "Sie schüren die Angst vor den Problemen, die eine Vereinigung mit sich bringen würde: die Finanzierung, die stärkere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Auch die innergesellschaftlichen ideologischen Konflikte um die Nordkorea-Politik zwischen dem konservativen und dem progressiven Lager beeinflussen die Wahrnehmung von Wiedervereinigungsthemen negativ."
Die Angst vor den Kosten
Natürlich wäre eine Wiedervereinigung teuer. "Im Fall einer Vereinigung im Jahr 2020 prognostiziert das südkoreanische Wiedervereinigungsministerium Kosten zwischen 379 und 1261 Milliarden Dollar", sagt Han. Und zehn Jahre später würde das Szenario mit pauschal 813 bis 2836 Milliarden vermutlich noch deutlich teurer ausfallen.
Angesichts dieser Zahlen überrascht es nicht, dass unter der südkoreanischen Bevölkerung die Sorge vor negativen Auswirkungen auf den Lebensstandard stark ausgeprägt ist. Doch diese Angst ist aus Sicht von Botschafter Mafael mittel - und langfristig unbegründet. Dann nämlich würden die Vorteile einer Wiedervereinigung überwiegen. "Der Lebensstandard wird insbesondere im Norden ansteigen. Und das wirtschaftliche Potenzial eines wiedervereinigten Koreas mit einem Markt von dann 75 Millionen Menschen würde die anfänglichen Kosten deutlich übersteigen." Dem stimmt auch der Tübinger Experte Han zu. "Das koreanische Parlament hat 2014 prognostiziert, dass der Nutzen aus einem Vereinigungsszenario für 2015 die Kosten tatsächlich deutlich übertreffen würde: innerhalb von 45 Jahren um das Dreifache."
Gibt es den "goldenen Weg"?
Was die politischen Voraussetzungen für eine mögliche Vereinigung angeht, ist für Han Un-Suk nur ein Szenario denkbar. "Das kann nicht durch Kompromiss und Vereinbarung realisiert werden, sondern nur durch einen Zusammenbruch Nordkoreas. Ein solcher Zusammenbruch ist nicht durch Druck, sondern eher durch Öffnung nach außen und durch eine Intensivierung des innerkoreanischen Austauschs und Handels zu erwarten." Deshalb habe die konfrontative Politik der konservativen südkoreanischen Regierungen seit dem Ende der Sonnenscheinpolitik die nordkoreanische Führung eher stabilisiert.
Unterdessen läuft den auseinandergerissenen Familien die Zeit davon. Jedes Jahr sterben Tausende – ohne ihre Verwandten von der anderen Seite der Grenze jemals wiedergesehen zu haben.