Deutschland zwischen Depression und Aufbruch
2. April 2021Die Weltwirtschaft erholt sich schneller als erwartet von den Folgen der Pandemie. Nach einer aktuellen Prognose der Organisation führender Industriestaaten (OECD) und einzelner Schwellenländer wie Kolumbien, Mexiko und der Türkei, erreicht das globale Bruttoinlandsprodukt schon in wenigen Monaten ihr Vor-Corona-Niveau. Angetrieben von China und den USA, wo massenhafte Corona-Impfungen und ein ehrgeiziges Konjunkturpaket der Wirtschaft zusätzlichen Schwung gibt, erwartet die OECD weltweit ein Plus von 5,6 Prozent. "Die globale Wirtschaftsleistung wird Mitte 2021 über das Niveau vor der Pandemie steigen", verkündete OECD-Chefvolkswirtin Laurence Boone Anfang März voller Optimismus. Die Organisation mit Sitz in Paris ist damit deutlich optimistischer als noch im Dezember: Damals hatte sie nur ein Plus von 4,2 Prozent vorausgesagt.
Nachzügler Deutschland
Ganz anders sieht es derzeit in Deutschland aus. Dort hat ein Forschungsinstitut nach dem anderen die Wachstumserwartungen für 2021 nach unten korrigiert. So erwartet das Ifo-Institut wegen des andauernden Lockdowns jetzt nur noch 3,7 Prozent Wachstum. Im Dezember hatten die Forscher um Konjunkturchef Timo Wollmershäuser noch mit einem Plus von 4,1 Prozent gerechnet. Damals waren die Münchner Ökonomen von schnellen Fortschritten beim Impfen ausgegangen. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Deutschland beim Impfen durch zu wenig Impfstoff und eine überbordende Bürokratie weit hinter seine Möglichkeiten zurückgefallen ist.
Die Ifo-Experten sind dabei immer noch eher optimistisch. Der Sachverständigenrat, die so genannten Wirtschaftsweisen, erwarten nur noch ein Plus von 3,1 Prozent,das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) sogar nur noch 3,0 Prozent Wachstum in diesem Jahr.
Ebenfalls optimistischer als die Stimmung in der vom Dauer-Lockdown geplagten deutschen Bevölkerung waren die vom Ifo-Institut befragten Unternehmen, die den Ifo-Geschäftsklimaindex im März erneut ansteigen ließen. Oder die vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) befragten Anleger und Finanzexperten, die den ZEW-Index im März zum vierten Mal in Folge stärker als erwartet ins Plus gehievt hatten.
Wie kann das sein? Große Teile der Bevölkerung sind unzufrieden mit der Bewältigung der Pandemie durch Bund und Länder und haben eine schnelle Rückkehr in ihr normales Leben längst abgehakt. Vergessen sind die Zeiten, als Deutschlands Krisenmanagement als erfolgreich wahrgenommen wurde und es großes Vertrauen ins Krisenmanagement der politischen Führung gab.
Gedrückte Stimmung durch lange Pandemie
Friedrich Heinemann vom Mannheimer ZEW zieht eine durchwachsene Bilanz der Performance von Bund und Ländern nach knapp fünf Monaten Lockdown: "Die um sich greifende Frustration ist zunächst einmal schlicht eine Folge der anfangs nicht erwarteten Dauer der Pandemie. Auch bei einem optimalen Krisenmanagement würde nach so einer langen Zeit einfach das Verständnis sinken und die Ungeduld wachsen", gibt der ZEW-Ökonom im Interview mit der DW zu bedenken. Außerdem sorge der Blick auf Impf-Champions wie Israel oder Großbritannien für verständlichen Frust in der deutschen Bevölkerung, wobei Heinemann die Verantwortung für den fehlenden Impfstoff eher auf der EU-Ebene als in Berlin sieht.
"Bund und Länder tragen aber eine Verantwortung für die viel zu langsame Fortentwicklung einer ganz umfassenden Teststrategie. Hier sind viele Monate scheinbar vertan worden, bevor jetzt endlich das umfassende Testen in Schulen und allgemeiner Bevölkerung einsetzt." Außerdem seien die Länder zu wenig innovativ gewesen, kritisiert Heinemann. "Das Tübinger Modell ist wunderbar, es kommt aber ein halbes Jahr zu spät."
Das langsame Tempo beim Impfen bei gleichzeitiger Impfstoff-Knappheit, die schnelle Ausbreitung ansteckender Coronavirus-Mutanten, der Dauer-Lockdown - all das führt dazu, dass sich die Konjunktur-Erholung weiter Richtung 2022 verschiebt. Ein zentraler Lichtblick sind die deutschen Export-Unternehmen, die von der Erholung der Wirtschaft in den USA und China stark profitieren. Dagegen schieben viele kleinere und mittelgroße Unternehmen großen Frust, weil es immer noch bei der Überweisung der versprochenen Krisenhilfen des Bundes hakt.
"Es ist nicht nur die Industrie, die stützt", erklärt ZEW-Ökonom Heinemann im DW-Gespräch. "Hinzu kommt eine sehr robuste Bauwirtschaft und auch die privaten Haushalte geben weiterhin Geld aus, so gut sie das mit den Online- und Außer-Haus-Angeboten können." Dass der private Konsum so robust sei, wertet Heinemann als "Erfolg der umfassenden Krisenpolitik der Regierung inklusive der sehr großzügigen, vielleicht sogar zu großzügigen Kurzarbeiterregeln."
Die verfügbaren Einkommen der Menschen seien in weiten Kreisen stabil. Heinemann gibt zu bedenken, dass die Hilfen nach Sektoren sehr unterschiedlich ausgefallen sind. "Beispielsweise ist das mittelständische Gastgewerbe viel umfassender entschädigt worden als der Einzelhandel. Und im stationären Einzelhandel leiden auch die großen Ketten nicht minder als die Kleinen."
Scharfe Kritik von Wirtschaft und Ökonomen
Eine ganze Reihe namhafter Ökonomen und Wirtschaftsverbands-Chefs hatte in den vergangenen Wochen mit teilweise ungewohnt scharfen Worten dem deutschen Krisenmanagement ein desaströses Zeugnis ausgestellt. Anton Börner, Chef des Außenhandelsverbandes BGA, hatte in einem Interview mit der Welt kritisiert, "Politiker und Beamte meinen, sie wissen selbst alles besser, und haben keinen Kontakt zum unternehmerischen Alltag". Ähnlich vernichtend fiel Börners Kritik der Impfstoff-Bestellung durch die EU aus. "In den Verträgen zur Impfstoffbeschaffung stehen Dinge, da kommen jedem Manager die Tränen", kritisierte Börner. Immer mehr Unternehmer fremdeln mit der Politik in Brüssel und Berlin. Die Nürnberger Unternehmerin Ingrid Hofmann etwa bescheinigte im Interview mit dem Focus der Kanzlerin, sie habe "keine Wirtschaft im Blut".
Für Friedrich Heinemann zeigt die scharfe Kritik aus der Wirtschaft, dass Nervosität und Aggressivität zunehmen - auch in den sonst eher zurückhaltenden Wirtschaftsverbänden. Und längst gehören zu den namhaften Kritikern der Berliner Pandemie-Politik auch deutsche Top-Ökonomen wie Michael Hüther vom Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Hüther hatte in einem Fernseh-Interview Kanzleramtsminister Helge Braun vorgeworfen, im Zusammenhang mit der vom Bund in Auftrag gegebenen und mit 145 Millionen Euro Steuergeldern bezuschussten Corona-Warn App "dummes Zeug" geredet zu haben.
Konjunktur für Besserwisser?
Für ZEW-Forscher Heinemann ein weiteres Zeichen, dass "selbst normalerweise nüchterne Wirtschaftsvertreter/innen nicht frei von diesen Stimmungen sind." Er erlebe derzeit "auch in Wissenschaftlerkreisen in den sozialen Netzwerken eine Stimmung der kollektiven Selbstüberschätzung." Überall meldeten sich Menschen zu Wort, "die glauben, dass sie alles viel besser als die in Berlin könnten, nur weil sie einen Doktortitel oder eine Professur in Volkswirtschaftslehre haben", so Heinemann.
Das sei eine Stimmung, die ihn an das Desaster der Fußball-WM in Russland erinnere, als Deutschland schon in der Vorrunde ausschied. Auch damals sei jeder klüger als der Bundestrainer gewesen. Heute gehe es allerdings um viel mehr als eine Fußball-WM. "Mich hätte die Kritik an der EU-Impfstoffbeschaffung bei vielen Kolleg/innen viel mehr beeindruckt, wenn ich davon schon im Sommer 2020 gehört hätte. Damals war aber Schweigen im Walde", kritisiert Heinemann.
Lage besser als Stimmung
Auch wenn es zurzeit so aussieht, als wenn im deutschen Krisenmanagement kaum etwas gut läuft, ruft Heinemann zu mehr Zuversicht auf. Er hält "die Düsternis der deutschen Selbstsicht derzeit für übertrieben".
Beim Blick auf die Todesopfer der Pandemie sei die deutsche Bilanz alles andere als schlecht. "Nur einige kleine EU-Staaten hatten bislang bezogen auf die Bevölkerung weniger Tote zu verzeichnen. Das ist ziemlich gut, jedenfalls deutlich besser als in jedem anderen großen EU-Staat." Heinemann warnt davor, alles schlecht zu reden: "Es ist wirklich nicht alles schlecht gelaufen."
Für den Mannheimer Ökonomen kommt es jetzt vor allem jetzt darauf an, dass mehr getestet und schneller geimpft werde. Außerdem müsse sich bei innovativen Öffnungsstrategien mehr bewegen.
Heinemann ist optimistisch, dass es bald gelingen wird, die Pandemie einzudämmen, ohne alles zuzumachen. Die Voraussetzung: Beim Testen und der Nachverfolgung von Kontakten müsse Deutschland einen Zahn zulegen. "Wir dürfen dann aber nicht mehr so zimperlich mit den Testverweigerern umgehen. Wenn eine Familie ihr Kind nicht testen lassen will, dann gehört es nicht mehr in die Schule oder die Kita."
Freiwilligkeit sei zwar gut, aber die Menschen müssten auch die Konsequenzen ihres Handels tragen, fordert Heinemann. "Die Politik sollte den Menschen viel ehrlicher sagen, dass ab Herbst das Leben eines Geimpften auch in Deutschland viel mehr menschliche Kontakte bringen wird als das eines Ungeimpften.