Autos bremsen automatisch
2. Dezember 2015Die heutigen Fahrerassistenz- und Notbremssysteme fürs Auto funktionieren mit Radar. Aber anders als etwa bei Schiffen, auf denen sich auf hohen Masten über einen Meter lange Radarantennen drehen, sind die Radare am Auto nur für Kenner zu sehen: Sie verbergen sich meist hinter eleganten Schächten im Kühler und sind winzig - kaum größer als eine Streichholzschachtel.
Komplette Radaranlagen bestehen heute nur noch aus einer Platine mit zwei winzigen Mikrochips - einem Sender und einem Empfänger. Die eigentlichen Radar-Antennen sind bereits selbst Teil der Platine: Sie sehen aus wie anderthalb Zentimeter lange Lötkontakte. "Unsere Idee entstand etwa im das Jahr 2000", erinnert sich der Physiker Rudolf Lachner: "Wir fragten uns, ob wir nicht mit einer Standard Siliziumtechnik - mit der man heutzutage praktisch 100 Prozent aller Computerchips herstellt - Radarchips herstellen können, damit man sie billiger und für jeden erschwinglich werden."
Beim Gespräch mit der Deutschen Welle hält Lachner ein solches Mini-Radarsystem in der Hand. Aber bis hierher war es für ihn keine leichte Aufgabe: Radare waren früher teuer und oft auch unhandlich. Damit waren sie nur für spezielle Kundenkreise interessant, wie etwa die Schifffahrt, an Flughäfen oder auch für Radio-Astronomen.
Siliciumgermanium statt Galliumarsenid
Die ersten Auto-Radare kamen Ende der 1990er Jahre auf den Markt, sie konnten sich aber nicht durchsetzen. Ein Grund: Die Halbleiter, die verbaut wurden, waren aus Galliumarsenid, einem exotischen und daher recht teuren Material.
Es wurde genutzt, weil Galliumarsenid-Transistoren die hohen Frequenzen um 77 Gigahertz (Ghz) physikalisch überhaupt erst erreichen konnten. 77 Ghz waren für für den Automobil-Radar bei der internationalen Frequenzzuweisung reserviert worden.
"Das ist also mehr als 30 Mal höher als die Frequenzen, die man im Mobilfunk verwendet", sagt Lachner zum Vergleich: Handelsübliche Transistoren etwa für Fernseher arbeiten nur mit Frequenzen von 800 Megahertz bzw. 0,8 Gigahertz. Mobiltelefone haben höchstens 2,5 Gigahertz. Die 77 Ghz für Autoradare bedeuten 77 Milliarden Schwingungen pro Sekunde.
Auf das Material kommt es an
Nach intensiver Suche fanden die Forscher eine Lösung: Eine Siliciumgermanium-Schicht kommt auf den Siliziumchip. Dadurch sind die höheren Frequenzen machbar. Zwar war das keine einfache Aufgabe, "aber damit war es dann möglich, am Ende noch höhere Frequenzen zu erreichen als mit Galliumarsenid", erinnert sich der Ingenieur Ralf Bornefeld. "Das war der Durchbruch und das war auch der Erste Schritt, den wir gemacht haben, um Radarsysteme massentauglich zu machen."
Der Ingenieur Walter Hartner hat bei Infineon in Regensburg die industrielle Produktion der Gehäuse für die Radar-Chips auf den Weg gebracht. Die Massentauglichkeit beginnt für ihn mit der Größe der Silizium-Wafer - also der tellergroßen Siliziumscheiben, auf denen tausende winzige Chips gefertigt werden.
Wichtig: Sie sind identisch mit denen, die für Mobiltelefone, Computer oder Navigationsgeräte verwendet werden: "Ein großer Kostenvorteil ist natürlich, dass man jetzt mit 8-Zoll Linien arbeiten kann, die weltweit Standard sind und damit natürlich viel günstiger sind als so eine Gallium-Arsenit-Linie." Die nutzte einen ganz anderen Standard.
Produktionszahlen schießen in die Höhe
2003 hat Infineon den ersten Silizium-Radar-Chip der Öffentlichkeit vorgestellt. In den ersten fünf Jahren nach der Markteinführung hat die Firma fünf Millionen Fahrzeuge damit ausgestattet. Erst im Juli 2015 hatte Infineon dann die Auslieferung des zehnmillionsten Radarchips fürs Auto gemeldet. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Schon innerhalb des nächsten Jahres will das Unternehmen die nächsten 10 Millionen ausgeliefert haben.
Für Verkehrsteilnehmer bedeutet das, den Beginn einer neuen Zeitrechnung - ähnlich wie die Einführung des Sicherheitsgurtes oder des Airbags, sagt Ingenieur Bornefeld. Sein Ziel: Das Auto soll nicht nur nach vorne, sondern in alle Richtungen schauen. Mit den neuen Chips geht das.
So kann oft das Schlimmste verhindert werden, zum Beispiel ein tragischer Unfall. "Im ersten Schritt ging es ums Erkennen: Wenn vor Ihnen ein Auto bremst, und sie nicht auffahren", erinnert sich Bornefeld an die frühen Radar-Experimente. "Das funktioniert heute sehr gut. Im zweiten Schritt ging es darum, Fußgänger und Fahrradfahrer zu schützen."
Der Ingenieur denkt dabei besonders an die typischen Gefahrensituationen: Der LKW-Fahrer biegt ab, sieht den Fahrradfahrer im toten Winkel nicht, ein Kind läuft plötzlich zwischen parkenden Autos hervor - oder der Autofahrer erkennt bei schlechter Sicht den Motorradfahrer nicht, der von der Seite kommt.
Aktive Sicherheit - bald Standard wie ein Airbag
Und das sind Fälle, wo Menschenleben gerettet werden können. Und das für knapp 250 Euro. Denn so viel kostet ein Notbremssystem. Bei der Anschaffung eines Neuwagens fällt das kaum ins Gewicht. In Großbritannien lohnt sich die Entscheidung für Neukunden allemal: Die Autoversicherer senken die Beiträge für diejenigen, die sich für solche Radar-Sicherheitssysteme entscheiden.
Der Hintergrund: Die Verletzungsrate bei einem neuen Golfmodell, das in Großbritannien mit Notfallbremssystem verkauft wird, lag einer Studie zufolge etwa 45 Prozent unter vergleichbaren Fahrzeugen ohne das Sicherheitssystem.
Und wenn sich der Notbremsassistent erst einmal durchgesetzt hat - ist es dann noch sehr weit, bis wir das Fahren komplett unserem Auto überlassen? Ganz so schnell wird es wohl nicht gehen. Zwar kann der Radar auf der Autobahn schon sehr gut einen sicheren und konstanten Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug halten und auch im Stop-and-go-Verkehr einiges erleichtern. Aber das allein reicht nicht.
Autonomes Fahren bleibt erst mal Zukunftsvision
"Wenn wir vollautonom fahren wollen, brauchen wir komplementäre Systeme, die sich sinnvoll ergänzen", meint Ralf Bornefeld. "Das sind Kameras, die sehen wie wir Menschen. Die haben den Vorteil, dass sie relativ einfach unterscheiden können: Was sehe ich denn da - was ist das für ein Objekt? Die haben aber den Nachteil: Sie sehen nur, wenn man was sieht. Wenn es dunkel ist, oder schlechtes Wetter ist, kommen wir an Limits."
Das vollautonome Auto bräuchte also deutlich mehr Systeme, die sich dann ergänzen: Kameras, Laser, Radar, GSM und vernetzte Kommunikation und vieles mehr. Und damit bleibt vollautonomes Fahren - anders als der Notbremsassistent - bis auf weiteres eben auch relativ teuer.
Die drei Erfinder und Entwickler der Silizium-Radar Technologie von Infineon wurden für den Deutschen Zukunftspreis nominiert, den Bundespräsident Joachim Gauck am 2. Dezember 2015 in Berlin verleiht.