Die Biennale der ungestörten Werke
1. November 2004„Wer schenkt mir eine Idee? Hilfe, ich bin zur Biennale eingeladen worden...“ Die Ausstellungsbesucher können ihre Vorschläge auf lose Blätter notieren und an die Wand heften. Das Pinboard, mit dem Navin Rawanchaikul aus Thailand den Betrachter auffordert, sich in die Rolle des Künstlers hineinzuversetzen, füllt sich erstaunlich schnell.
Die Rollen des Künstlers und des Kurators hinterfragt auch Livia Flores. Die Brasilianerin übernimmt selber die Auswahl und inszeniert das Werk eines anderen Künstlers. So bietet sie Clovis, einem Mann aus einem Obdachlosenheim in Rio de Janeiro, das internationale Forum für seine skurrilen Sperrholzkonstruktionen.
Kunst ist kein Design, kein Kitsch
Die offizielle Rolle des Chefkurators einer der ältesten und mit 25.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche weltweit größten Biennalen hat Alfons Hug zugesprochen bekommen - zum zweiten Mal in Folge. Unter dem Titel "Território livre" umschreibt er für die 26. Biennale, die am 25. September 2004 eröffnet wurde, „ein herrschaftsfreies Gebiet und damit eine Gegenwelt zur real existierenden“.
Hugs Konzept ist eine zuweilen fast poetisch klingende Abgrenzung "wahrer" Kunst von Design, Dokumentation, medialer Bilderflut, ökonomischen Kriterien, Politkitsch. Der Chefkurator liebt die zarteren Schattierungen und gibt deshalb Malerei und Fotografie besonders viel Raum - doch das wird mitunter von grellen, nach Aufmerksamkeit heischenden Beiträgen durchdrungen.
Das Gebäude gehört mit zum Werk
Doch deutlich wird allemal: In dieser Ausstellung wird die Autonomie der Kunst gefeiert. Und hier ist vor allem der Betrachter gefragt, der dazu bereit ist, sich in die Werke hineinzuvertiefen. Er wird dann auch den subtilen Reiz des Vorhangs aus zentimeterdünnen Plastikstreifen wahrnehmen, die von der Decke bis zum Boden herabfließen und so den Blick durch die Glasfront nach außen verschleiern. Diesen Weg beschreitet der Portugiese João Paulo Feliciano, um sich visuell Gehör zu verschaffen in der großartigen Architektur des Ausstellungspavillons, den Oscar Niemeyer in den 1950er Jahren entwarf.
In diesem Kontext erwähnenswert sind vor allem einige brasilianische Installationen: Zum Beispiel nimmt Thiago Bortolozzo in einer Konstruktion aus Sperrholzplatten und altem Baumaterial die Balkonbauchungen und -buchten des Ausstellungsbaus auf und führt sie nach außen weiter, als wäre die transparente Glasfassade keine Raumbegrenzung. Und sein Landsmann Artur Barrio lässt im Gebäude ein reales Boot auf Sand laufen: Die geschwungene Form des geblähten Segels wird von den wellenförmigen Balkonen förmlich umbrandet.
Beschwingtes Konzept
Zahlenmäßig stellen die Brasilianer mit 20 Beiträgen das größte der 50 Nationenkontingente. Deutschland folgt nach den USA an dritter Stelle und ist mit Arbeiten von Thomas Demand, Vera Lutter, Albert Oehlen, Neo Rauch, Julian Rosefeldt, Thomas Scheibitz und Thomas Struth vertreten. Für Hug spiegelt dies den künstlerischen Stellenwert insbesondere deutscher Malerei und Fotografie wider, die er für die zurzeit stärkste in Europa hält.
Alfons Hug weiß: Eine Ausstellung zu komponieren heißt, richtig zu gewichten - aber auch, nicht jede Dissonanz harmoniesüchtig aufzulösen. Hug gibt dabei beschwingt-melodischem Spiel vor dumpfen Paukenschlägen den Vorzug. Ob es zur großen Symphonie langt, mag das Publikum beurteilen, das den Gratiseintritt aus Anlass des 450. Gründungsjubiläums der Stadt São Paulo bisher weidlich ausnutzt.
Geöffnet Montag bis Donnerstag von 9 bis 22 Uhr; Freitag, Samstag und Sonntag bis 23 Uhr. Eintritt frei. Noch bis zum 19. Dezember 2004.