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Die Deutsche Einheit wird 11 Jahre alt

Bernd Gräßler1. Oktober 2001

Der Kampf gegen den Terrorismus drängt in Deutschland auch den 11. Jahrestag der Deutschen Einheit (03.10.) in den Hintergrund.

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So erschien der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit Ende September fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Die 150 Seiten sind fast ausschließlich mit Wirtschaftsdaten gefüllt. Kein Wunder, denn nachdem der Aufbau des bundesdeutschen Rechts- und Sozialsystems in den neuen Bundesländer längst abgeschlossen ist, bleibt der Bundesregierung im wesentlichen die Wirtschafts- und Infrastrukturförderung als Aufgabe. Doch die scheint gewaltig. Denn das Ziel, die im Grundgesetz geforderte Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, ist noch lange nicht erreicht. Der Kern des Problems: die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft liegt immer noch bei 68 Prozent des Westniveaus. Die Unterschiede springen ins Auge, wenn man übers Land fährt oder in die Statistik blickt: Einerseits kletterten die Löhne und Gehälter im Osten auf 91 Prozent des Westniveaus, andererseits ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im Westen. Zwar hat gerade mal jeder zweite Westdeutsche seit dem Mauerfall eine Reise in den Osten unternommen, doch bei vielen Westdeutschen steigt die Angst, dass der Osten zum Fass ohne Boden wird. Deshalb warnt der in der Bundesregierung für den Aufbau Ost zuständige Staatsminister Rolf Schwanitz, der selbst aus Ostdeutschland stammt, seine Landsleute, die Solidarität des Westens mit immer neuen Geldforderungen überzustrapazieren:

"Denn es kann nicht nur nach der Situation ostdeutscher Wünsche gehen. Es muss auch nach der Akzeptanz solcher Programme in den alten Bundesländern gehen. Und Solidarität ist kein einseitiges Konto, das man nur überziehen kann, sondern das gepflegt werden muss."

Langfristiger Solidaritätspakt

Bei West- wie Ostdeutschen wächst das Bewusstsein, dass der Osten den Westen nicht so bald einholen wird und man sich damit abfinden muss. Immerhin haben Regierung, Parlament und Ländervertretung erneut einen langfristigen Solidaritätspakt beschlossen, der den neuen Bundesländern bis zum Jahr 2019 noch einmal 300 zusätzliche Milliarden für den Ausbau der Infrastruktur sichert. Finanzspritzen "außer der Reihe" kann der Osten allerdings kaum noch erwarten, weil Bundesfinanzminister Eichel einen harten Sparkurs fährt. Ausnahme ist ein 4-Milliarden-Programm "Stadtumbau Ost", mit dem vor allem leerstehende Plattenbausiedlungen abgerissen oder umgestaltet werden. Politiker und Unternehmer in Ost und West hoffen auf einen Entwicklungssprung in Ostdeutschland durch die EU-Erweiterung. Zwar können die osteuropäischen Nachbarn Billiglöhne bieten, doch Ostdeutschland verfügt im Vergleich zu ihnen inzwischen über eine wesentlich bessere Infrastruktur. Nicht zuletzt deshalb setzte sich jüngst die Region Leipzig und Halle im europaweiten Wettbewerb um den Bau des neuen BMW-Werkes durch. Bundeskanzler Gerhard Schröder spürte auf seiner zweiwöchige Sommerreise in die ostdeutschen Grenzregionen aber auch die Angst vor der neuen Konkurrenz aus den osteuropäischer Nachbarländern. Die Bundesregierung solle erst einmal Jobs für die eigenen Arbeitslosen schaffen, bevor sie ausländische Arbeitssuchende ins Land lasse, heißt es.

Vor allem daran, ob er mehr Ostdeutsche in Lohn und Brot bringen kann, wird Kanzler Schröder bei der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2002 zwischen Erfurt und Rostock gemessen werden. Symbolische Gesten des Kanzlers, wie Kaffeetrinken mit den wieder entdeckten ostdeutschen Cousinen oder die Erhebung des Aufbaus Ost zur "Chefsache" reichen nicht, zumal sich die SED-Nachfolgepartei PDS erfolgreich als Interessenvertreterin und Sprachrohr der "Deutschen zweiter Klasse", so PDS-Propaganda, profiliert hat. Die Postkommunisten bekommen im Westen keinen Fuß auf den Boden, aber sie haben sich in den neuen Ländern als dritte Kraft fest etabliert und können dort im Schnitt mit jeder fünften Wählerstimme rechnen. Die PDS sitzt in Mecklenburg-Vorpommern gemeinsam mit der SPD in der Landesregierung, kooperiert in Sachsen-Anhalt mit einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung, und ist in Sachsen zwweitstärkste Partei vor der SPD. Selbst in der Hauptstadt Berlin steht sie auf dem Sprung in die Regierung. Sollte ihr dies gelingen, so wäre das für die frühere Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley der schlimmste aller denkbaren politischen Unfälle:

"Berlin ist meine Stadt, ich habe hier immer gelebt, lebe hier. Und dass die Partei, die für die Mauer verantwortlich war, heute die Stadt mitregieren soll, das ist für mich unerträglich. Und wenn man sich die Mitglieder der Partei anguckt, es sind ja 80 oder mehr Prozent der alten Genossen in dieser Partei. Und ich denke, sie haben die DDR zugrunde gerichtet, die waren nicht mal in der Lage hinter einer Mauer eine anständige Wirtschaft aufzubauen oder den Leuten ein anständiges Leben zu garantieren, und sie sind es unter den Bedingungen des Konkurrenzkampfes schon gar nicht."

Kuhhandel

Doch mit solchen Verweisen auf die Vergangenheit ist elf Jahre nach der Einheit kaum noch Politik zu machen. Die Vergesslichkeit sei groß, klagen frühere Opfer der SED-Diktatur. Beispiel: Ihnen gelang es in diesem Jahr zwar, bessere Rentenansprüche durchzusetzen. Allerdings erst in einer Art Kuhhandel, weil die Regierung - auf Geheiß des Bundesverfassungsgerichts - die Pensions-Kürzungen für Ex-DDR-Funktionäre rückgängig gemacht hatte. In den Erinnerungen vieler Ostdeutscher, so beklagt die Verwalterin der Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, verkläre sich die DDR immer mehr. Viele Ex-DDR-Bürger empfänden eine soziale Kälte im vereinten Deutschland stellt Meinungsforscher Manfred Güllner vom Forsa-Institut fest. Der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz behauptet, im Osten seien die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht so sehr durch Konkurrenzen vergiftet. Und in einer Forsa-Umfrage sagten 75 Prozent der Befragten Ostdeutschen, es gebe nach wie vor ein unterschiedliches Lebensgefühl in Ost und West. Von den ganz jungen Deutsche teilen immer weniger die aus der Vergangenheit gespeisten Ost-West-Animositäten und Vorurteile ihrer Eltern. Wichtiger ist für sie die Ausstattung ihrer Schulen oder das Angebot an Lehrstellen. Aber auch hier hat der Osten Nachholbedarf. So bemerkt ein Kommentator in der ostdeutschen Tageszeitung "Magdeburger Volksstimme": "Es reicht offensichtlich nicht, von Fahnenappellen und FDJ-Studienjahr weitgehend verschont geblieben zu sein, um sich im neuen Vaterland wirklich heimisch zu fühlen".