Die Flüchtlinge im Geisterdorf
16. September 2015Die heruntergelassenen Rollläden fallen als Erstes auf. Wenn man näher hinschaut, sieht man auch die zugeklebten Briefkästen. Vieles ist stehen geblieben in Manheim-Alt, seit beschlossen wurde, dass es rund sechs Kilometer weiter südöstlich ein neues Manheim geben wird. Dort, wo keine Braunkohle in der Erde ist, die von RWE abgebaut werden soll.
Der Schulhof ist leer, das Becken des kleinen Hallenbads trocken, die Straßenschilder verblasst. Einzig die Äpfel an den Bäumen in der "Esperantostraße" wachsen weiter, unbeirrt von den Plänen des Energiekonzerns. In Manheim leben nur Menschen, die noch nicht ausgezogen sind. Ein Junge fährt mit einem Fahrrad, an dem eine Deutschlandfahne befestigt ist, über den Marktplatz. Ein Mann sitzt an der Bushaltestelle. Gegenüber ist die Filiale der Sparkasse - geöffnet Montag bis Freitag für nur dreieinhalb Stunden. Sie schließt am ersten November.
Patenkreis hilft Flüchtlingen
Auch in einer anderen Straße sind die meisten Rollläden heruntergezogen. Aber es schlafen nicht alle. Ein kleines Mädchen läuft einem Hund hinterher, so groß wie sie selbst. Neben dem Mädchen steht Gabi Walluga: "Lass fallen, Pepe", spricht sie dem Mädchen vor, es spricht nach, ihre Worte klingen etwas anders, aber Pepe versteht. Der Ball rollt der Kleinen vor die Füße.
Das Mädchen heißt Sofia, ist vier Jahre alt und seit Ende 2014 die neue Nachbarin von Volker und Gabi Walluga. Sie ist mit ihren Eltern und dem achtjährigen Bruder aus Armenien gekommen. Sofia musste operiert werden, in Deutschland konnte man ihr helfen.
Die Wallugas sind Teil eines Ende 2014 gegründeten Patenkreises, der die im Dorf lebenden Flüchtlinge unterstützt. Ihr Keller ist voll mit Kleidung, Möbeln und anderen Dingen - Spenden für die Asylbewerber. Andauernd klingelt es an der Tür. Doch eher selten, weil jemand ein Paar Schuhe oder einen Stuhl braucht. Vor allem die Kinder der Asylbewerber schauen oft bei den Wallugas vorbei: Mal kommt Ramzi aus Serbien, weil er mit Hund Pepe spazieren gehen will, mal ein anderes Kind, um die Pferde der Wallugas zu striegeln.
"Manchmal muss ich auch abends sagen, jetzt ist Schluss", sagt Gabi Walluga. "Viele haben ein anderes Zeitverständnis." Dann erkläre sie ihren neuen Nachbarn, dass man in Deutschland ab acht Uhr nicht mehr bei anderen Menschen klingelt, und auch nicht bis in die Nacht laut Musik hört oder alte Möbel zum Grillen benutzt. Gabi Walluga lacht: "Da kam dann eine riesige Rauchschwade zu uns rüber geflogen. Aber das gehört zur Integration dazu." Mit Händen und Füßen mache sich Gabi Walluga dann verständlich, auf Deutsch sei es meistens noch schwierig.
Integrationsbeauftragte: "Manheim ist kein Zukunftsmodell"
Erst in der Nacht zu Donnerstag musste die 65.000 Einwohner-Stadt Kerpen, zu der Manheim gehört, wieder rund 350 neu ankommende Flüchtlinge unterbringen. Sie kamen in die Kaserne, die die Stadt als Notunterkunft umgebaut hat. Insgesamt leben dort zurzeit 600 Menschen. Weitere 400 Flüchtlinge leben in anderen Stadtteilen, teils in Wohnungen, zum Teil in Sammelunterkünften wie umgebauten Bürogebäuden.
Dagegen wirkt die ländliche Idylle von Manheim zunächst wie ein Glücksfall für die 73 Iraker, Serben, Bosnier, Armenier, Albaner, Kosovaren und Somalier, die hier untergebracht wurden. Platz haben sie ausreichend, die kleinen Häuser haben einen Garten, die Kinder können im ganzen Dorf spielen. Doch die Unterbringung in Manheim-Alt sei kein "Zukunftsmodell", sagt die Integrationsbeauftragte der Stadt Kerpen, Annette Seiche. "Es gibt keinen Treffpunkt für die Menschen und keinerlei Infrastruktur". Das nächste Geschäft ist fast vier Kilometer entfernt, der Bus fährt einmal in der Stunde. Außerdem zögen bald auch die wenigen verbliebenen "Ureinwohner" weg, noch leben 655 Menschen hier: "Je mehr wegziehen, desto weniger Integration kann stattfinden."
Und dann sind da noch die Regeln des Gesetzgebers, an die sich Seiche halten muss. Sie darf bei der Unterbringung eine vorgegebene Quadratmeterzahl nicht überschreiten: "Das führt dazu, dass ich zwei Familien in einem Einfamilienhaus unterbringen muss, in dem es nur eine Küche und ein Bad gibt." Die Deutschen lebten für gewöhnlich eben etwas luxuriöser, sagt Seiche.
"Im Kleinen etwas bewirken"
Für die Jüngeren öffnet der städtische Jugendtreff von Montag bis Freitag seine Türen. Doch immer öfter kommen auch die Eltern mit. Es ist der einzige Ort, an dem sie sich versammeln können. Einmal in der Woche organisiert der Patenkreis um Pastor Neuhöfer einen Deutschkurs im Pfarrheim. Und Gabi Walluga plant auch schon die nächste Aktivität, eine Krabbelgruppe für die ganz Kleinen.
"Man kann immer reden, reden, reden und sich das im Fernsehen anschauen. Wir verzweifeln nicht, sondern machen das, was wir im Kleinen machen können. Da können wir etwas bewirken", erklärt Gabi Walluga ihre Motivation. Sie und ihr Mann wollen sich nicht als Helfer verstehen. Sie seien Nachbarn, nicht mehr und nicht weniger, sagt Volker Walluga. Er kann sich sehr aufregen über die aktuelle Flüchtlingspolitik der EU und über rechtes Gedankengut. Schon damals, als er selbst noch in einem Werk der RWE arbeitete, diskutierte er mit seinen Kollegen über Ausländerfeindlichkeit und die Angst vieler Deutschen, dass ihnen etwas weggenommen wird: "Wenn wir helfen, geben wir den Leuten Sachen, die ansonsten in den Container oder in die Altkleidersammlung gegangen wären. In Deutschland haben meiner Meinung nach noch nicht viele verzichtet - und Helfen hat auch etwas mit Einschränken und Verzichten zu tun."
Was in den Containern deutscher Familien landet, kann man sich auf den Straßen von Manheim direkt ansehen. Die Gegenstände stehen vor den Häusern der Menschen, die gerade ausziehen. Und auch heute ist eine Familie dabei, ihr Haus zu leeren. Ein weißes Regal steht vor der Tür, gegenüber sind zwei alte Kühlschränke zu sehen. Sie stehen mitten in einem Dorf, das bald weggebaggert wird.