Die Frauen vom Maidan
25. Januar 2014Der Schnee auf der Hruschewskoho-Straße in Kiew ist schwarz. Auch die Gesichter von Menschen, die hier zwischen Barrikaden stehen, sind schwarz vor Rauch. Seit Tagen verbrennen oppositionelle Demonstranten Autoreifen, um sich vor einem Angriff der Polizei zu schützen.
Ohne Schutz auf Barrikaden
Ein rund zweihundert Meter langer Straßenabschnitt ist momentan der gefährlichste Ort bei den Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Regierung in der ukrainischen Hauptstadt. Einige starben hier durch Polizeikugeln, hunderte wurden verletzt. Von hier schleudern radikale Regierungsgegner Molotowcocktails auf Polizisten, die mit Blendgranaten und Gummigeschossen antworten.
Es ist kein Ort, an den man Frauen erwarten würde. Und doch sind sie hier. Hunderte, vielleicht tausende Ukrainerinnen engagieren sich bei Protesten in Kiew. Weder eisige Temperaturen von unter minus 10 Grad noch Explosionen und Schüsse scheinen ihnen Angst zu machen. Anders als Männer, die auf den Köpfen Helme und in den Händen Schlagstöcke tragen, laufen Frauen ohne Schutz durch die Barrikaden.
Lehrerin und Ökonomin
Zwei Frauen tragen einen großen Plastikkorb mit Brötchen zwischen den Barrikaden. "Belegte Brötchen mit Speck", rufen sie. Die eine, Halyna (alle Namen wurden geändert - Red.) ist Lehrerin in Kiew, sie ist Anfang 50. Ihre Partnerin, Natalia, Ende 30, ist Leiterin der Finanzabteilung in einer Kiewer Firma.
Beide haben sich auf dem Maidan Nesaleschenosti (Unabhängigkeitsplatz) kennengelernt. Beide sind freiwillige Helferinnen. Sie tragen Atemmasken, um nicht erkannt zu werden. Denn ein Gericht hat verboten hier zu protestieren. Außerdem können alle oppositionellen Demonstranten aufgrund neuer Gesetze wegen "Extremismus" für Jahre im Gefängnis landen.
"Wir sind gekommen, damit unsere Kinder in einem friedlichen europäischen Staat leben", sagt Halyna, Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. "Wir gehen ja nicht dahin, wo geschossen wird", sagt sie. "Man lässt uns Frauen da nicht herein". In der Tat sperren Männer die Eingänge zu der ersten Barrikadenreihe für Frauen ab, wenn es brenzlig wird. Halyna hat jetzt Urlaub und kommt jeden Tag für mehrere Stunden auf die Hruschewskoho-Straße, die von der Opposition auch als "Maidan", im Sinne von "besetztes Aufstandsgebiet", bezeichnet wird.
"Wir wollen Solidarität mit denen zeigen, die hier sind und gegen den Präsidenten Viktor Janukowitsch protestieren", sagt Natalia. "Wir tun das, was wir können - schneiden Brötchen und bringen sie zu den Demonstranten". Ihre Ehemänner wissen, dass sie hier sind, sagen die Frauen. Angst vor Schüssen und Explosionen habe sie nicht, sagt Natalia, die nach der Arbeit und an Wochenenden hierher kommt. "Wenn wir jetzt Angst haben, werden wir unser ganzes Leben Angst haben". Wenn sie das sagt, schreit jemand in der Menge plötzlich: "Achtung! Scharfschütze!" Alle schauen hoch auf ein Haus. Buhrufe sind zu hören. Halyna und Natalia scheint das nicht zu stören. Sie gehen weiter.
Die Hausfrau
Einige Meter weiter hilft Marina, Eis von der Straße in einen Sack zu sammeln. Marina ist 35 und Mutter von zwei Kindern, neun und zwei Jahre alt. "Ich bin wegen meiner Kinder hier", sagt sie. "Ich möchte, dass sie in einem demokratischen Land und nicht in einer Diktatur aufwachsen". Marina ist Hausfrau, arbeitet aber auch in einem Kiewer Kinderladen. "Ich komme mit meinem Mann jeden Tag hierher, auch unsere Kinder nehmen wir mit".
Das gehe seit Beginn der Proteste Ende November 2013 so, sagt sie. Zehntausende demonstrieren in Kiew gegen den Kurs des Präsidenten, der eine Annäherung an Russland und nicht an die Europäische Union betreibt. Besonders empört sei sie wegen der menschlichen Opfer auf diesen Barrikaden, sagt Marina. Angst habe sie nicht: "Einfach zu Hause sitzen kann ich nicht".
Die Grafikdesignerin
Am Straßenrand, keine 50 Meter von brennenden Reifen, steht Oxana. "Bitte nicht fotografieren", sagt sie. "Sonst würde meine Mutter mich erkennen, sie darf nicht wissen, dass ich hier bin". Oxana ist Ende 20, eine Grafikdesignerin aus Kiew. Sie ist Mutter einer fünfjährigen Tochter. "Ich bin aus Verzweiflung hierher gekommen", sagt die junge Frau. "Ich kann mir nicht vorstellen, in einem Land zu leben, in dem solche Dinge geschehen wie jetzt in der Ukraine".
Oxana ist jeden Tag nach der Arbeit und an Wochenenden auf dem Maidan und an der Hruschewskoho-Straße. Manchmal bringt sie selbst gekochte Borschtsch, traditionelle ukrainische Suppe mit Weißkohl und roter Beete, mit. Als sie einmal nachts kam, hatte sie danach Streit mit ihrem Mann. "Er sprach nicht mit mir und sagte, ich sei verrückt", erzählt sie und lächelt. Doch die gut gekleidete Frau sieht nicht verrückt aus. Eher wie jemand, der nicht anders kann.