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Die "Märtyrer" von Jalazoun

Sven Pöhle17. Oktober 2015

Im Lager Jalazoun im Westjordanland leben rund 16.000 palästinensische Flüchtlinge. Seit 66 Jahren hoffen sie auf Besserung, doch die Lage wird eher schlechter. Besonders die Jugend leidet. Sven Pöhle aus Ramallah.

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Gedenktafeln für "Märtyrer" im Flüchtlingslager Jalazoun bei Ramallah (Foto: DW/Sven Pöhle)
Bild: DW/S. Pöhle

Ihr Bilder hängen überall. Dutzende Poster sind es, die in den Gassen von Jalazoun, einem Ort nordöstlich von Ramallah, angebracht sind. Auch auf einem großen Plakat über den Dächern prangen ihre Gesichter. "Das sind die Märtyrer von Jalazoun", sagt Thaer, ein junger Palästinenser im gestreiften Polo-Hemd, der sich als Lehrer vorstellt.

Als "Shahid" - zu Deutsch "Märtyrer" - wird hier bezeichnet, wer sich gegen Israel auflehnt und dabei stirbt. Alle Plakate zeigen junge Männer, manche gerade einmal Teenager. Mal ist das Zeichen der Regierungspartei Fatah auf den Postern zu sehen, mal das der Hamas oder anderer militanter Gruppierungen. "Stirb nicht, ohne ein Held zu sein", heißt es unter der Gedenktafel eines 20-Jährigen, der im Juni 2014 bei einem Zwischenfall mit der israelischen Armee getötet wurde.

Gedenktafeln auf Schritt und Tritt

Im zweiten Stock eines Hauses, an dessen Außenwand das Konterfei eines "Märtyrers" als Graffiti aufgesprüht ist, warten Hussein Elayari, ein Fatah-Vertreter und mehrere jüngere Männer. Elayari ist Präsident des lokalen Komitees von Jalazoun, eine Art Ortsbürgermeister. Neben den gerahmten Fotos des früheren und des aktuellen Palästinenserpräsidenten, Jassir Arafat und Mahmud Abbas, zieren auch hier "Märtyrer"-Porträts die Wände.

Leinwand mit Gesichtern der "Märtyrer" und der politischen Führer Arafat und Abbas (Foto: DW/Sven Pöhle)
Eine Leinwand zeigt die Gesichter der "Märtyrer" und der politischen FührerBild: DW/S. Pöhle

Jalazoun ist eines von 19 Flüchtlingslagern im Westjordanland. Rund 16.000 Menschen leben hier auf einer Fläche von einem Viertelquadratkilometer, sagt Hussein Elayari. Anfangs waren es rund 2000 Palästinenser, die im Zuge des arabisch-israelischen Kriegs von 1948/49 hier Zuflucht fanden. Zunächst habe sich das Rote Kreuz um die Menschen gekümmert, sagt Elayari. Dann übernahm das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) das Lager. Der Begriff "Lager" trifft eigentlich nicht mehr zu, denn die vor 66 Jahren aufgestellten Zelte sind längst durch einfache Betonhäuser ersetzt worden.

"Unsere Jugend hat keine Hoffnung"

Da der Flüchtlingsstatus vererbt wird, wächst die Zahl der als Palästina-Flüchtlinge registrierten Menschen stetig. Gemeinsam mit der Zahl wachsen auch die Probleme. "Wir haben hier immer weniger Geld für immer mehr Menschen", klagt Elayari. Viele Leistungen im Bereich Bildung, Gesundheit und Wohlfahrt würden immer mehr heruntergefahren. Die Arbeitslosigkeit liege bei über 60 Prozent. Jede Nacht, behauptet er, werde das Lager von israelischen Sicherheitskräften oder Siedlern angegriffen. "Wir haben alle gewarnt, dass unsere Jugend keine Hoffnung hat", sagt Elayari. "Unterdrückung führt zur Explosion, aber die Jugend wird sich ihre Hoffnung erfüllen - egal wie hoch der Preis dafür ist." Thaer fügt hinzu: "Für unser Land würden wir alles opfern", sagt er. Die jungen Männer im Raum nicken zustimmend.

Straße im Flüchtlingslager Jalazoun bei Ramallah (Foto: DW/Sven Pöhle)
Jalazoun heute: Betonhäuser haben die einstigen Zelte ersetztBild: DW/S. Pöhle

Mohammad Arar, der die Regierungspartei Fatah im Camp vertritt, sagt: "Die militärischen Auseinandersetzungen mit Israel haben alles immer nur verschlimmert." Gewaltfreier Widerstand habe nichts bewirkt. Dass Jugendliche aus Jalazoun auf israelische Sicherheitskräfte Steine werfen, sei ein Effekt der Hoffnungslosigkeit, erklärt er. "Sie tun das, obwohl sie wissen, dass ihre Steine mit Kugeln beantwortet werden."

Ganz Ramallah steht still

Die Jugendlichen treffen sich im Alhuk-Café im Zentrum des Lagers. Am frühen Nachmittag sitzt hier der 22-jährige Ahmad Shahman mit drei anderen jungen Männern, sie rauchen Wasserpfeife und trinken Kaffee. Im Hintergrund laufen die Nachrichten und zeigen die bekannten Bilder: Steine werfende Jungen, die palästinensische Flagge, israelische Soldaten. "Wir können nicht still sein", sagt Shahman. Die Steine seien ihre Botschaft an die Welt.

Denkmal im Flüchtlingslager Jalazoun bei Ramallah (Foto: DW/Sven Pöhle)
Ein Denkmal im Zentrum des Ortes hält die Erinnerung an die Getöteten wachBild: DW/S. Pöhle

Eine staubige Straße führt hoch zu einem Gemeindehaus, wo eine Trauergemeinschaft zusammengekommen ist. Inmitten der Männer sitzt Abdullah Scharakah. Gestern ist sein 13-jähriger Sohn Ahmed beerdigt worden. Es war ein großer Trauerzug, ganz Ramallah stand bis 13 Uhr still. Schulen und Geschäfte blieben geschlossen, damit alle Bewohner der Stadt an der Beerdigung teilnehmen konnten. Gehüllt in die palästinensische Flagge und beklagt von hunderten Menschen wurde Ahmed zu Grabe getragen. Es ist die übliche Zeremonie für einen "Märtyrer".

Ausschreitungen am Checkpoint

Abdullah Scharakah spricht mit leiser Stimme. Sein Sohn sei ein guter Sohn gewesen, sagt er. Dass Ahmed zu Demonstrationen gehe, habe er nicht gewusst. Am Checkpoint Beit El, hinter dem eine israelische Siedlung liegt, zünden junge Menschen regelmäßig Autoreifen an und attackieren israelische Soldaten und Polizisten mit Steinen oder sogar Brandsätzen. Die Sicherheitskräfte antworten mit Tränengas und Beschuss. Bei einem dieser Zusammenstöße erlitt Ahmed eine Schusswunde, vermutlich von einem Gummigeschoss. "Ahmed starb an einem Blutgerinnsel im Gehirn und an inneren Verletzungen", sagt sein Vater. Dann entschuldigt er sich. Er muss er zum Eingang des Gemeindehauses, denn der ehemalige Ministerpräsident Salam Fayyad ist gekommen, um sein Beileid auszusprechen.

Draußen vor dem Haus spielen ein paar Jungen. Manche von ihnen sind noch nicht einmal im Teenager-Alter. Sie seien dabei gewesen, als Ahmed starb, behaupten sie. Einer zeigt stolz eine Narbe in seinem Gesicht. Sie stamme von einem israelischen Gummigeschoss. Nicht minder stolz erzählt ein anderer, dass einer seiner Brüder bereits gestorben sei. Ein Vater schaut etwas verlegen, zuckt aber mit den Achseln. Abhalten könne er sie nicht, meint er und legt den Arm um seinen Sohn. Warum sie dies tun? "Für Al-Aksa!" ruft eines der Kinder. "Es ist unser Land", sagt ein anderer. "Wir machen weiter!"