Die nächste Katastrophe in Zentralafrika
21. März 2014Chancella Damzousse kann die Flugzeuge hören, die Soldaten und Nahrungsmittel in die Zentralafrikanische Republik bringen. Das Dorf der 16-Jährigen ist eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Bangui entfernt. Doch weder die Soldaten der internationalen Schutztruppe noch die Nahrungsmittel-Lieferungen der Hilfsorganisationen haben es bisher in ihr Dorf geschafft. "Wir müssen uns hier gegenseitig helfen", erzählt Chancella. "Das ist nicht einfach. An manchen Tagen haben wir etwas zu essen. An anderen Tagen haben wir nichts."
"Sie haben uns alles genommen"
Heute ist einer der Tage, an denen ihre Familie etwas zu essen hat - allerdings viel zu wenig. Chancella sitzt an der Feuerstelle direkt vor ihrem Wellblechhaus und brät eine Hand voll Sesamkörner in einer Pfanne. Daraus will sie eine Paste machen, später kommen noch ein paar Bohnen dazu. 15 Menschen müssen davon satt werden, denn Chancellas Familie hat noch mehrere Nachbarn bei sich aufgenommen. Sie haben ihr Zuhause verloren, als muslimische Séléka-Milizen vor ein paar Monaten das Dorf überfielen und ein Massaker an der Bevölkerung anrichteten. Diejenigen, die Glück hatten, konnten in den Busch fliehen. Doch als sie zurück ins Dorf kamen, standen sie vor dem nichts. Die Milizen hatten fast alle Häuser niedergebrannt und die Vorräte geplündert. "Bevor die Séléka gekommen sind, war es hier friedlich und es gab zumindest genug zu essen. Sie haben uns alles genommen: Unser Essen, unser Geld und unsere Sicherheit", sagt Chancella.
Inzwischen hat sich das Machtverhältnis umgedreht. Nach monatelangen schweren Ausschreitungen und unzähligen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung trat der von den Séléka-Milizen eingesetzte Präsident Michel Djotodia auf internationalen Druck hin zurück. Die meisten Séléka flüchteten in den Norden des Landes. Seitdem haben die Anti-Balaka-Milizen in der Gegend das Sagen. Offiziell wurde zwar Catherine Samba-Panza, die ehemalige Bürgermeisterin der Hauptstadt Bangui, als Übergangspräsidentin ernannt, doch der Zentralafrikanische Staat existiert längst nur noch auf dem Papier. Seit einem halben Jahr hat kaum ein Beamter ein Gehalt gesehen. Viele Behörden sind nur noch verwaiste Gebäude. Den Ministerien wurde bisher kein Budget zugesprochen. Die insgesamt rund 8000 Soldaten der Schutztruppe aus der Afrikanischen Union und Frankreich versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Doch in einem Land, das zweimal so groß ist wie Deutschland, bleibt ihr Einfluss auf die Hauptstadt und wenige Hauptverkehrsadern beschränkt.
Milizen haben die Macht übernommen
So haben auch im Dorf von Chancella Damzousse Kämpfer der Anti-Balaka das Kommando übernommen. Einer von ihnen hat seinen Wachposten direkt neben der Wellblechhütte von Chancellas Familie eingerichtet. Die Miliz beschreibt sich selbst als christlich, doch sie ist eher ein zusammengewürfelter Haufen aus Soldaten der ehemaligen Staatsarmee, Kriminellen und Rebellen, die gegen die muslimische Minderheit im Land kämpfen.
Die junge Frau ist froh über den Kämpfer, so trauten sich zumindest die Séléka-Milizen nicht zurück in ihren Ort. "Ich finde sogar, die Präsidentin sollte ihnen Geld geben. Sie sind die einzigen, die jetzt hier in den Dörfern für Sicherheit sorgen", meint Chancella. Die muslimische Bevölkerung würde ihr wohl widersprechen - doch hier gibt es längst keine einzige muslimische Familie mehr. Im ganzen Land ist ihr Anteil laut Schätzungen der UN von zehn bis 15 Prozent auf unter zwei Prozent gesunken. Diejenigen, die noch fliehen konnten, sind geflohen. Alle anderen wurden von den Anti-Balaka getötet. Und auch der junge Kämpfer neben dem Haus von Chancella gibt zu verstehen, dass er "keinen Unterschied zwischen guten und bösen Moslem" machen würde, falls er noch eine Familie in der Gegend entdeckte.
Angst vor Epidemien breitet sich aus
Auch wenn Chancella Damzousse und die verbliebenen christlich-animistischen Familien im Dorf momentan von keiner Miliz bedroht werden, so ist ihr Leben doch in unmittelbarer Gefahr.
UN-Menschrechtskommissarin Navi Pillay geht davon aus, dass die in wenigen Wochen erwartete Regenzeit die Nahrungsmittel-Knappheit dramatisch verschlimmern wird. Während eines Besuchs in Zentralafrika machte sie deutlich, dass sie die langsame Reaktion der Internationalen Gemeinschaft "sehr betroffen" mache. Lebenswichtige humanitäre Hilfsmaßnahmen seinen "kläglich unterfinanziert". Und auch der Leiter des Welternährungsprogramms, Ertharin Cousin, warnte vor einer drohenden Nahrungsmittelkrise in dem Land.
Chancella Damzousses Familie und die anderen Dorfbewohner hätten in den letzten Wochen eigentlich ihre Felder vorbereiten müssen. Doch aufgrund der Sicherheitslage und des mangelnden Saatguts konnten das nur die wenigsten. Hinzu kommt, dass die Dörfer während der Regenzeit noch stärker von der Außenwelt abgeschnitten sein werden, als sie es jetzt schon sind. Organisationen wie die Deutsche Welthungerhilfe haben zwar schnelle Hilfe zugesagt - in wenigen Wochen wollen sie die Arbeit vor Ort aufnehmen. Doch auch sie müssen ihre Tätigkeit auf die Hauptstadt Bangui und die umliegenden Bezirke beschränken. "Traditionell arbeiten wir immer auf dem Land. Aber die Sicherheitslage lässt das momentan leider nicht zu", so Pressesprecherin Simone Pott gegenüber der DW.
Dangaza Samson, einer der wenigen verbliebenen Mitarbeiter im zentralafrikanischen Landwirtschaftsministerium, rechnet bereits mit dem Schlimmsten für die Dorfbevölkerung. Er befürchtet sogar den Ausbruch von Epidemien und spricht von einem Teufelskreis: "Ihre geschwächten Körper sind anfällig für Krankheiten. Diese wiederum verhindern, dass die Menschen auf ihren Feldern arbeiten können." Soweit kann und will Chancella Damzousse momentan gar nicht denken. Für sie zählt vor allem eine Frage: Bleiben noch etwas Sesam und Bohnen für morgen übrig?