Die Reifeprüfung für Angelique Kerber
17. Januar 2017Die 28-jährige Angelique Kerber, geboren in Bremen, ist in den letzten Monaten vieles gefragt worden. Neulich, bei ihrer Wahl zur deutschen Sportlerin der Jahres, durfte sie sich sogar zur Weltpolitik äußern. Die in einem eleganten hellen Kleid gestylte Tennisspielerin erzählte von dem besonderen Moment, als sie US-Präsident Barack Obama treffen durfte. Als sie dann auf den künftigen Präsidenten angesprochen wird, antwortet Kerber: "Muss ich darauf antworten?"
Nichts zu verlieren
Sie musste nicht. Aber: Die Episode von der Veranstaltung in Baden-Baden zeigt, was von Angelique Kerber jetzt alles erwartet wird. Mag sie selbst noch so sehr den Vergleich mit Stefanie Graf von sich weisen, was sie ehrt, gilt dennoch: Angelique Kerber ist nun im Fokus. Sie ist der Maßstab im Damentennis.
Die erste Runde der Australian Open in Melbourne unterstrich das auf bittersüße Weise. Die Ukrainerin Lesia Zurenko war sicherlich alles andere als eine Angstgegnerin. Und doch zeigte sie, was so sicher alle Gegnerinnen der Nummer 1 in diesem Jahr zeigen werden: Kampfgeist. Und: Dass sie nichts zu verlieren haben.
Kerber siegte in drei Sätzen und besiegte dabei auch einen ihrer gefährlichsten Gegner: sich selbst. Wie viele überragende Tennis-Größen vor ihr wird auch Angelique Kerber nun gegen sich selbst kämpfen müssen. Einmal oben an der Spitze angekommen, gilt es den Erfolgshunger zu bewahren, weiter an den Details zu arbeiten, nicht nachzulassen. 2017 ist das die große Herausforderung. Nach ihrem steilen Aufstieg in 2016 mit dem Sieg bei den Australien Open, der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Rio sowie ihrem Triumph bei den US Open folgt nun die ungleich schwerere Aufgabe, das Niveau zu halten. Den wirklich ebenbürtigen Kontrahentinnen wie Serena Willimas, Agnieszka Radwanska oder Simona Halep wird sie seltener und dann nur in den letzten Runden begegnen. Schließlich hat sie die alle beiseite geschoben.
8875 Punkte verzeichnet Kerber zur Zeit in der Weltrangliste der WTA, der Women's Tennis Association. Serena Williams, die lange Zeit mit Abwesenheit glänzte, folgt in gebührendem Abstand mit 7080 Punkten. Jedes Match, das Angelique Kerber in diesem Jahr verliert, kann sie wichtige Punkte kosten. Es ist das Jahr der Reifeprüfung. Kann die Deutsche sich ganz oben halten? Oder ist wahr, was der nicht immer diplomatische, aber immer kenntnisreiche John McEnroe gerade in der "Sport Bild" prophezeite: Er glaube nicht, dass Kerber lange an der Spitze bleibe.
Wichtige Entscheidungen
Die bei den Großeltern im polnischen Puszczykowo lebende Kerber hat alles getan, um die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Jahr 2017 zu legen. Sie hat die Erfolge gefeiert, aber nicht zu sehr. Sie hat Urlaub gemacht, aber nicht zu lange. Sie hat sich dann wieder zur Saisonvorbereitung zurückgezogen - nicht nur mit ihrem Trainer-Fuchs Torben Beltz, sondern auch zu Konditionseinheiten, die für manchen männlichen Tennisprofi eine Herausforderung wären. Und sie hat einige wichtige Entscheidungen getroffen. Für ihren eigenen Manager Aljoscha Thron, einen promovierten Mediziner mit eigener Spielervergangenheit, bei dem nun alle Fäden zusammenlaufen. Und gegen einen Auftritt bei der ersten Runde im Mannschaftswettbewerb Fed Cup für Deutschland, gegen die kräftezehrende Reise Anfang Februar nach Hawaii.
Ausgerechnet im Prestigeduell gegen die USA tritt die beste deutsche Spielerin nicht für das DTB-Team an? Als Angelique Kerber dies am Sonntag vor dem ersten Match in Melbourne bekanntgab, saß Barbara Rittner neben ihr. Die Fed-Cup-Chefin und Bundestrainerin war auch in ihrer Box, neben Torben Beltz, als Angelique Kerber in der ersten Runde von Melbourne gegen die Ukrainerin und gegen ihre eigene Neigung zur Selbstsabotage spielte. Rittner darf man als eine der wichtigsten Stützen der Deutschen auf dem schwierigen Weg an die Weltspitze ansehen. Die Bundestrainerin hat ihr nicht vergessen, dass sie nach ihrem ersten Grand Slam Sieg vor einem Jahr um die halbe Welt eilte, um ihren Teamkolleginnen zur Seite zu stehen. Und dann ziemlich entkräftet ein Match verlor.
Gift für den Körper
Ein solcher Trip Anfang Februar wäre Gift für den Körper der Angelique Kerber. Niemand weiß das besser als sie. Die anderen Anfeindungen heißen: Pliskova, Cibulkova, Kuzentsova. Oder: Konta und Svitolina. Die Verfolgerinnen in der Weltrangliste zeichnet zum Beispiel aus, dass sie äußerst humorlos zu Werke gehen werden, wenn es gegen Kerber geht. Die Position 1 wird keine dieser Spielerinnen ihr so schnell streitig machen können. Aber jede Niederlage wird am Ranking kratzen.
Während diesen Spielerinnen der Glamour-Faktor weitgehend abgeht, den die Turnierveranstalter so sehr schätzen, warten die Zuschauer in Melbourne, Paris und allen anderen Tennis-Stadien der Welt sehnsüchtig auf die Rückkehr der beiden anderen großen Frauen des Wettbewerbs. Wie fit und vor allem hungrig ist Serena Williams noch, die gerade ja ihre Verlobung bekanntgegeben hat und in den USA längst nicht nur als Sport-Ikone wahrgenommen wird? Und: Was ist von Maria Scharapowa zu erwarten? Die Russin kehrt im April nach ihrer Doping-Sperre auf die Tour zurück. Scharapowa wird dabei übrigens auch trotz der Doping-Affäre weiterhin von ebenjenem Sportwagenhersteller unterstützt, der auch Kerbers Karriere begleitet.
"Es war nicht so schlecht, dass ich jetzt so ein Match hatte", sagte Kerber, nachdem sie in Melbourne im ersten Spiel über drei Sätze gehen musste. "Es ist die erste Runde eines Grand Slams", verriet sie im Presseraum nun wirklich kein Geheimnis. Ja, sie habe sich auch an die erste Runde im vergangenen Jahr erinnert, als sie schon einen Matchball gegen sich hatte. Noch manches Mal wird sich Kerber solche Momente des Vorjahres in Erinnerung rufen. Ob es ihr helfen wird?
Noch Platz auf der Tafel
Die Erinnerungen sind ohnehin präsent. Bevor die Spielerinnen die Rod-Laver-Arena in Melbourne betreten, gehen sie durch einen frisch gestrichenen Gang, in dem stilisierte Portraits aller Champions zu sehen sind, mit den Daten der Siege in Melbourne. Ganz vorne steht das Bild von Angelique Kerber. "Angie" müsste sich bei einer solchen Gelegenheit umdrehen, um das Portrait auf ihrer linken Seite zu erkennen. Sie geht vorbei. Aber sie weiß auch so: Auf der Tafel ist noch Platz.