Authentizität im Netz?
11. Oktober 2012Sind Sie schon authentisch? Alle müssen jetzt authentisch sein. Mit Ecken und Kanten. Und sympathischen Fehlern. Gut, dass es das Internet gibt. Denn da kann man so herrlich authentisch sein. Seit einigen Wochen bin ich exzessiver Nutzer des Fotodienstes Instagram. Sie haben davon vielleicht schon gehört. Das 12-köpfige Team wurde jüngst von Mark Zuckerberg höchstselbst für eine Milliarde Dollar gekauft. Warum? Weil er Angst hatte. Weil Instagram gerade das neue heiße Ding ist. ALLE nutzen plötzlich Instagram. Alle bedeutet: Ganz schön viele Leute, die ich kenne.
Ich und die Wirklichkeit
Bei Instagram postet man mit dem Smartphone geschossene Bilder, die sind quadratisch und mit digitalen Filtern auf alt getrimmt. Das ist schon alles. Man kann Bilder kommentieren oder ein Herz anklicken, wenn man das Bild obergut findet. Man kann Leuten folgen, das heißt: Man kriegt ihre Bilder frei Haus auf den Smartphonebildschirm geliefert. "Ich gehe nicht mehr ins Kino, ich gucke mir lieber Instagram an." Das hat eine amerikanische Bloggerin namens Alexia Tsotsis vor kurzem getwittert. Die ist natürlich auch bei Instagram und postet da Bilder von sich selbst, von Veranstaltungen, Hunden, Computerbildschirmen, Schaufenstern und Getränken. Ich und derzeit 7210 weitere Follower schauen sich das alles ganz genau an. Oh, Alexia.
Die Kleinen und die Bösen
Einfach nett. Real. Und unverbogen. Voll ungekünstelt. Sie ahnen es wahrscheinlich schon. Das ist alles unheimlich authentisch. Das echte Leben.
Ist es nicht! Denn natürlich ist hier alles ganz überhaupt gar nicht zufällig. Das hier ist eine bewusste Inszenierung. Ist das jetzt doof? Nein, überhaupt nicht. Die so genannte Authentizität kommt hier bisweilen zwar ziemlich künstlich daher, sie öffnet aber einen Handlungsraum, der natürlich gar nicht so neu ist.
Seit jeher haben sich Menschen - zum Beispiel über ihre Kleidung - inszeniert. Das Beste daran: Seit jeher haben einige diese Tatsache genutzt, um geheime Botschaften einzuschmuggeln. Verschiedenfarbige Schnürsenkel, Tücher oder die genaue Ausprägung der Hosennaht waren der Mehrheit der Bevölkerung meist egal. Für eine kleine Gruppe von Eingeweihten bedeuteten und bedeuten sie aber etwas ganz besonderes. Ein Code versteckt sich hier, der nur von manchen entschlüsselt werden kann und soll.
Alles ist gut
Nichts anders passiert in der neuen Bilderflut bei Instagram oder Facebook. Vordergründig wird hier aktiv inszeniert, hintergründig wird auf anderer Ebene kommuniziert. Das Bild eines Gewürzregals mag der Allgemeinheit mitteilen, dass hier jemand gerne isst und würzt und kochen kann. Doch nur wenige Eingeweihte wissen, was an besagtem Abend in der Wohnung, in der sich das Gewürzregal befindet, noch so stattfand, in welchem Urlaub das Gewürz gekauft wurde und in welchem Roman der abgebildete Kaffee eine Schlüsselrolle spielt. Und das sind nur schlecht ausgedachte Beispiele.
Glauben darf man also besser erstmal gar nichts mehr. Zumindest nicht das, was man sieht. Auch wenn es noch so nett und so authentisch ist. Oder scheint.
Marcus Bösch war irgendwann 1996 zum ersten Mal im Internet. Der Computerraum im Rechenzentrum der Universität zu Köln war stickig und fensterlos. Das Internet dagegen war grenzenlos und angenehm kühl. Das hat ihm gut gefallen.
Und deswegen ist er einfach da geblieben. Erst mit einem rumpelnden PC, dann mit einem zentnerschweren Laptop und schließlich mit geschmeidigen Gerätschaften aus aalglattem Alu. Drei Jahre lang hat er für die Deutsche Welle wöchentlich im Radio die Blogschau moderiert. Seine Netzkolumne gibt es hier jeden Donnerstag neu.