Die Stadt der toten Dichter
2. Dezember 2012Nora Gomringer ist so etwas wie der Star der deutschen Lyrikszene, gefeierte Slam-Poetin und vielfach preisgekrönt. Hellwach und äußerst lebendig sitzt die Poetin neben mir auf der Sitzbank eines Busses. "Mit genau so einem Bus bin ich früher zur Schule gefahren", konstatiert sie gleichermaßen erstaunt wie amüsiert.
Jetzt karriolt das Vehikel Schriftsteller, Künstler und Journalisten aus Europa, Nordamerika und Israel durch die Gegend. Ihnen gemeinsam ist, dass sie zum Literaturfestival "Meridian Czernowitz"angereist sind und sich auf deutsch-jüdische Spurensuche begeben. Und zwar im wahrsten Wortsinn: mit einem deutschen Bus zum jüdischen Friedhof der Stadt.
Unerwartete Begegnungen
Wir stehen in der Zeremonienhalle des Friedhofs, deren mächtige Kuppel einstürzen wird, wenn nicht bald etwas geschieht.
Zwei Damen gesellen sich zu uns. "Mein Urgroßvater ist in Czernowitz geboren", sagt die eine. Sie lebe jetzt in New Mexico, USA. Ich erinnere mich, im Zuge meiner Recherchen ein Foto von ihnen gesehen zu haben. Es sind Irene und Helene Silberblatt aus den USA: "Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger sind beide verwandt mit uns."
Paul Celan, 1920 in Czernowitz geboren, gilt als einer der größten Lyriker, der je in deutscher Sprache gedichtet hat. Er hat den Holcaust schwer traumatisiert überlebt. Verwunden hat er ihn nie. 1970 nahm er sich in Paris das Leben. Die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger starb im Lager Michailowska an Flecktyphus im Alter von 18 Jahren.
Wie alle jüdischen Friedhöfe so wirkt auch dieser unübersichtlich. Denn anders als bei den Christen lassen die Juden die Natur an ihren Begräbnisplätzen einfach gedeihen. Nicht das gepflegte Grab, sondern kleine Steinchen, die man darauf legt sind Zeichen dafür, dass es Menschen gibt, die sich an die Toten erinnern. Die Silberblatt-Schwestern suchen das Grab ihres Urgroßvaters, der auch mit den beiden Dichtern verwandt war: "Er ist hier irgendwo begraben. 2004, als wir zum ersten Mal in Czernowitz waren, hat uns jemand geholfen, es zu finden."
Damals waren sie eingeladen, als eine Gedenktafel feierlich an der Wand des Wohnhauses von Selma Meerbaum-Eisinger angebracht wurde. "Man wusste in Czernowitz kaum etwas über das deutsch-jüdische Kulturerbe. Aber das Literaturfestival hat das deutlich geändert."
Die Silberblatt-Schwestern wollen Selmas Geschichte und Gedichte auch im englisch-sprachigen Raum bekannt machen. Sie haben Selmas Werke übersetzen lassen und als Gedichtband herausgegeben. Ein paar Exemplare möchten sie einer Lehrerin übergeben, die an Paul Celans ehemaliger Schule, dem Gymnasium Nummer 5, Englisch unterrichtet. "Ich glaube, zum Grab geht es hier entlang." Wirklich sicher ist sich Helene Silberblatt nicht, denn der jüdische Friedhof von Czernowitz ist mit 50.000 Gräbern einer der größten seiner Art in Mittel- und Osteuropa.
Parallelen unter Poetinnen
Während die Silberblatt-Schwestern auf der Suche nach dem Grab sind, finde ich Nora Gomringer wieder, die sich gerade Notizen macht. Selma habe sie seit langem begleitet, erzählt sie: "Wenn ich so überlege, ist mir der Gedichtband 'Ich bin in Sehnsucht eingehüllt' 2001 zum ersten Mal begegnet." Seitdem haben die Gedichte sie immer begeleitet. Selma stehe für die Kraft und die Hoffnung, mit der ein junger Mensch der Zukunft entgegen schaut, und dafür, wie sie beides so tragisch verlor.
In der jungen Selma sieht Nora Gomringer ein wenig sich selbst: Auch sie habe mit 16 Jahren angefangen zu schreiben, Selma mit 15. "Da gibt es schon Parallelen. Das Schwere, das Unbedingte im Fühlen, das liegt in all diesen Texten drin." Besonders erschütternd findet die deutsche Dichterin den hastig hingeworfenen, letzten Eintrag in dem Album mit Selmas Gedichten: "Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben…' Das fand ich eigentlich immer das Rührendste und das Härteste." Selma wurde an einem Sonntag im Juni 1942 in das Lager Michajlowska deportiert. Zuvor gelang es ihr, das Album mit ihren 57 Gedichten einer Freundin zuzuspielen.
Die letzten Czernowitzer Juden
Heute leben rund 3000 Juden in Czernowitz, schätzt Rabbi Mendel Glizenstein. Er stammt aus Eilat in Israel und kam vor fast 9 Jahren in die Stadt. Hier will er die jüdische Gemeinde wiederbeleben. "Wir geben die Traditionen weiter, eröffnen Kindergärten, Ganztagsschule, Studentenclubs, Tora-Unterricht für alle Altersgruppen. Das Wichtigste ist, die Leute sollen sich nicht mehr fürchten müssen, jüdischen Glaubens zu sein."
Die Referentin des Rabbi hilft mir bei meiner Spurensuche. Alexandra Onufrasch ist eine liebenswürdige Dame Mitte 50. Gemeinsam gehen wir eine Liste durch, in der Namen, Adressen und Geburtstage der Gemeindemitglieder verzeichnet sind. Wir finden nicht mal mehr ein Dutzend jüdische Menschen, die den Krieg miterlebt haben und noch in Czernowitz wohnen. Und noch weniger, deren Muttersprache Deutsch ist.
Einer ist Max Schickler, Jahrgang 1919. Schickler will gerne von den alten Zeiten erzählen, als in Czernowitz an jeder Ecke Deutsch gesprochen wurde. "In Czernowitz gab es 57.000 Juden und 25.000 Deutsche. Sie haben in der Vorstadt Rosch gewohnt. Auch die Menschen anderer Nationalitäten haben Deutsch gesprochen.“ Der rumänischen Verwaltung war das ein Dorn im Auge. Denn nach dem Ersten Weltkrieg wurde Czernowitz rumänisch. "Den Rumänen ist es aber nicht gelungen, die Stadt zu rumänisieren. Czernowitz ist deutschsprachig geblieben", sagt Max Schickler in seinem präzis-nüchternen Deutsch, das bisweilen lakonisch klingt.
Nach dem Krieg war nur noch rund die Hälfte der Juden in der Stadt, die anderen waren umgekommen oder ausgewandert. Dafür strömten nun Juden aus allen Teilen der Ukraine in die Stadt, deren Namen immer noch einen magischen Klang hatte. Doch Deutsch sprachen die jüdischen Neubürger nicht. Immerhin waren ein paar ehemalige Mitschüler Schicklers geblieben. Mit ihnen habe er sich auf Deutsch über das alte Czernowitz unterhalten, über Paul Celan, der das gleiche Gymnasium besucht habe wie er selbst, und den er verehrt, wie Rose Ausländer und die anderen Dichter. Doch von allen berühmten Töchtern und Söhnen der Stadt bewundere er am meisten Josef Schmidt, den Sänger, den seine Fans gern mit Caruso verglichen.
Der kleine Mann mit der großen Stimme
Am Abend findet die Hommage an Josef Schmidt statt, im Kino von Czernowitz, das früher eine Synagoge war. Max Schickler ist dabei. Obwohl er nur mit Mühe laufen kann, will er die Veranstaltung um keinen Preis verpassen. Alte Filmausschnitte zeigen die große Kunst, des Mannes, der gerade mal 1,48 Meter maß. "Er hat hohe Absätze getragen, das war lächerlich", findet Schickler. Doch Schicklers Verehrung für Josef Schmidt tut das keinen Abbruch.
"Josef Schmidts Mutter wohnte in Czernowitz. Jedes Jahr im Herbst kam er zu den Feiertagen der Juden und gab Konzerte. Die ganze jüdische Gemeinde hat die Konzerte besucht. Alle sangen seine Lieder", erinnert sich Max Schickler. Schmidt habe seiner Mutter eine Apotheke gekauft, in der Straße, die zum Bahnhof führe, gleich das erste Haus links. Er konnte sich das leisten, denn in Berlin war Schmidt ein Star. Doch seine Karriere endete 1933. Schmidt floh zunächst nach Wien, dann nach Belgien, weiter nach Paris und schließlich in die Schweiz, wo er als illegaler Flüchtling interniert wurde. Zermürbt und gesundheitlich angeschlagen starb er 1942 an Herzversagen.
Immer wieder Czernowitz
In den goldenen Zeiten, als die Bukowina ein Teil von Österreich-Ungarn war, hieß die Olga-Kobylanska-Gasse nach Wiener Vorbild "Herrengasse".
In einem der alten Palais liest Nora Gomringer aus ihren Werken. Sie ist zum ersten Mal in Czernowitz - auf Einladung des Goethe-Instituts. Doch in Gedanken sei sie schon viele Male hier gewesen, erzählt sie dem Publikum – auf den Spuren der Dichter, die hier geboren seien: Paul Celan, Rose Ausländer und Selma Meerbaum-Eisinger.
"Weil ich schon immer viel über die Shoa geschrieben habe, werde ich immer wieder gebeten, vor jungen Menschen in Deutschland über dieses Thema zu sprechen. Daher habe ich drei Texte verfasst, die für eine deutsche Schulbuchserie verwendet wurden." Einer heiße "Monolog" und sei Selma Meerbaum-Eisinger gewidmet.
Nach der Lesung treffe ich Felix Zuckermann. Er ist der Sohn von Rosa Zuckermann, die durch den Film von Volker Koepp "Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ berühmt wurde: Darin geht es um zwei hochbetagte Czernowitzer Juden, die sich jeden Abend treffen, um Erinnerungen auszutauschen.
Während Felix Zuckermann von seiner Mutter erzählt und davon schwärmt, wie kultiviert und geistreich sie war, tippt ihm jemand auf die Schulter: Es ist Volker Koepp, der einen neuen Film macht, in dem Czernowitz wieder vorkommt.
Herr Zwilling und Frau Zuckermann
Nach der überraschenden Begegnung schlendern Felix Zuckermann und ich durch Straßen, die mit jedem Schritt beschaulicher, grüner und ländlicher werden. Nach einer Weile stehen wir vor einem frisch renovierten zweistöckigen Haus, das ebenso in einer süddeutschen Kleinstadt stehen könnte. Es sei das Elternhaus seines Vaters. Zu Lebzeiten seiner Mutter habe die Familie allerdings im Zentrum gewohnt. "Meine Mutter war eine harte Nuss. Sie war abgehärtet durch den schweren Lebensweg.“
Rosa Zuckermann wurde mit ihren Eltern, ihrem Mann und ihrem Sohn Marcel in ein Lager deportiert. Alle starben an Flecktyphus – bis auf Rosa Zuckermann. Doch sie ist ein Menschenfreundin geblieben. "Sie sagte immer: Das Leben geht weiter, man muss das Leben genießen. Herr Zwilling war der Pessimist und meine Mutter die Optimistin." Eines Tages sei eine große Fliege im Zimmer herumgeflogen. "Da sagte meine Mutter: Öffnen Sie das Fenster, die Fliege soll raus.
Doch Herr Zwilling sagte: Wenn ich das Fenster aufmache, kommen die anderen Fliegen herein.“ Herr Zwilling und Frau Zuckermann haben sich stets förmlich mit "Sie" angesprochen. Doch die innere Verbundenheit der beiden dauert auch nach dem Tod an: Die Familiengruften der Zwilling und Roth-Zuckermann liegen nebeneinander.
Meridian Czernowitz
Am nächsten Tag bin ich verabredet mit den Silberblatt-Schwestern. Helene ist erkältet, Irene und ich fahren alleine zum Wohnhaus von Selma Meerbaum-Eisinger. Unterwegs erzählt sie, dass sie vor zwei Jahren, als das Literaturfestival Meridian Czernwotz zum ersten Mal statt fand, auch in der Stadt war. "Es war faszinierend. Paul Celan schrieb, Czernowitz sei ein Meridian. Dieses immaterielle Etwas, das die Menschen überall auf der Welt verbindet. Erst gestern dachte ich darüber nach, wie wahr das ist.”
Wir stehen vor dem Haus mit der Gedenktafel und dem Bildnis von Selma. Es scheint, als ob uns das Mädchen, das fast noch ein Kind ist, anlacht - voller Neugier auf das Leben. “Ihre Augen sagen so viel. Sie ist so jung, so unschuldig gestorben.” Was wäre aus Selma geworden, wenn ihr nicht Menschen die Zukunft geraubt hätten, fragt sich Irene. “Ich bin sicher, sie wäre eine heute ein großzügiger, warmherziger, leidenschaftlicher und verständnisvoller Mensch. Sie hatte nie Angst, sich gegen Unrecht auszusprechen.” Ihre Freunde hätten das an ihr geschätzt.
Bevor wir noch wehmütiger werden, kläfft uns vom Balkon des ersten Stockes ein Hund an, holt uns zurück ins Hier und Jetzt. Irene zeigt mir das Foto ihres Hundes, eines Silky Terriers. "Er heißt Mick Jagger."
Eine Art Abschiedstour
Nora Gomringer und ich fahren ein letztes Mal zum jüdischen Friedhof. Dem Wagen, ein alter Lada, haben die kopfsteingepflasterten Straßen mächtig zugesetzt. Der Fahrer gibt sich alle Mühe, die Schlaglöcher zu umkurven. Dennoch werden wir arg durchgeschüttelt. Felix Zuckermann hat mir gesagt, wo ich das Grab von Herrn Zwilling und Frau Zuckermann finde. Ich lege je einen kleinen Stein auf die Gruft der Zwillings und der Zuckermanns.
Nora Gomringer treffe ich in der Leichenhalle. Sie kann ein wenig Hebräisch und müht sich, die Wandinschrift zu entziffern. Plötzlich fängt sie an zu singen: Es ist "Selmas Schlaflied für die Sehnsucht".
Die deutsche Dichterin nimmt aus Czernowitz die Erkenntnis mit nach Hause, dass die Poesie und insbesondere Selmas Gedichte neue Zugänge zum Thema Holocaust eröffnen. "Mit Selma haben wir die Chance, uns nicht dokumentarisch der Shoa zu nähern, sondern über die Kunst. Das ist ein ganz anderer Zugang, der uns da erlaubt wird, ein viel persönlicherer. Und dazu gehört die Erkenntnis, dass Poesie sehr politisch ist."
Als wir zurück in die Stadt fahren wollen, streikt der Motor. Während der Fahrer das Auto repariert, schlendern wir über einen Markt in der Nähe. Kleinbauern verkaufen Gemüse aus ihren Feldern, Händler Billigwaren aus China, dazwischen wimmelt es von Hunden. Nie zuvor habe ich so viele streunende Hunde gesehen wie in dieser Stadt. Kein einziger war böse, sondern alle ganz freundlich. Nach rund einer Stunde läuft das Auto wieder und es geht ein letztes Mal durch die Straßen von Czernowitz.