Die vergessenen Kinder
8. Mai 2013Als sie 18 war dachte Alfreda Pipiraitė, sie wäre endlich angekommen. "Aber nein, sie sagten zu mir: Du deutsches Schwein! Du Hitleristin! Faschistin und so weiter. Es war besonders schmerzlich, wenn ein Familienmitglied mich so genannt hat."
Denn Alfreda war eigentlich Luise, eine Deutsche, geboren 1940 im ostpreußischen Ort Schwesternhof. Mit vier Jahren kam sie zu einer litauischen Familie - als "Wolfskind". Mehr als 5000 Kinder flüchteten im Chaos der Endkriegszeit auf der Suche nach Essen und Frieden von Ostpreußen nach Litauen, schätzt die Historikerin Ruth Leiserowitz. Genaue Zahlen sind unbekannt.
Der Zweite Weltkrieg nahm den "Wolfskindern" die Eltern, die Heimat, die Sprache. Er raubte ihre Vergangenheit und das, was aus ihnen hätte werden können. Die Vier- bis Zwölfjährigen irrten durch die Wälder, allein oder in Gruppen. Manche von ihnen hatten nicht einmal Schuhe. Ihre Bäuche waren aufgebläht, die Arme spindeldürr. Ihre Zähne begannen zu faulen. Mal aßen sie Gras, mal Frösche, mal nichts.
Aus der Sowjet-Kaserne "gemopst"
Luise flüchtete zunächst mit Tante und Cousine nach Westen. Rotglühend stachen abgebrannte Baumstämme in den Himmel. Pferdekadaver lagen am Straßenrand, daneben Wagenruinen und halboffene Koffer. "In manchen lag ein Teddybär und ich hab gesagt: Oi, stopp! Den will ich haben", erzählt Luise von der Flucht im Planwagen. Ihre Erinnerungen sind bruchstückhaft. Vieles ist vergessen, noch mehr verdrängt.
"Plötzlich wurden wir überrollt von den Russen. Ich erinnere mich an die schrecklich schreienden Frauen. Die wurden vergewaltigt, nur ein paar Schritte von uns. Ich verstand nicht, was da los war", sagt sie. Bei einem Bombenangriff wurde sie von der Tante getrennt - stattdessen nahm ein sowjetischer Kompaniekoch das Mädchen mit nach Litauen. Dort bemerkte sie hinter dem Zaun der Kaserne eine junge Frau, sie zeigte ihr Bonbons. "Und ich ging, ging, ging am Zaun entlang bis ich ein Loch fand. Dadurch bin ich raus - und in der Familie gelandet. Ja! Einfach gemopst, sage ich!" Und sie lacht.
Luise lacht viel, aus Freude und Verlegenheit, aus Scham. Denn sie hatte Glück im Unglück: Aus Luise wurde Alfreda. Die Familie besorgte ihr litauische Papiere, schickte sie in die Schule. "Ich hatte immer alles, ich war immer angekleidet und war immer satt. Ich war ein kleines, kleines Kind, natürlich brauchte ich eine Familie", sagt sie. "Manchmal vergaß ich sogar, dass ich ein fremdes Kind war."
Beschimpft und vergewaltigt
Andere mussten dagegen um ihr Überleben kämpfen: Ruth Deske fuhr als 13-Jährige erstmals nach Litauen, illegal auf dem Trittbrett eines Güterzugs. Sie wurde erwischt, rausgeworfen, sprang auf den nächsten Zug auf. In Litauen bettelte sie um Essen und kehrte mit ihrer Beute nach Ostpreußen zurück. Immer wieder. Als die Mutter starb, blieb sie mit den drei Geschwistern alleine zurück. Mit dem Jüngsten auf dem Arm lief sie zu Fuß über die Grenze. "Er war nur Haut und Knochen und konnte selbst kaum noch gehen", erzählt sie im Buch "Wir sind die Wolfskinder" der Journalistin Sonya Winterberg.
Andere "Wolfskinder" schwammen durch die Memel oder liefen kilometerweit. Wer es bis Litauen schaffte und eine neue Familie fand, musste oft hart für Obdach und Essen arbeiten: auf dem Feld, im Stall, als Hütejungen, als Boten, als Hausmädchen. Zur Schule durften nur wenige - bis heute sind zahlreiche "Wolfskinder" Analphabeten. Einige wurden beschimpft und geschlagen, erzählt Luise: "Manche Mädchen wurden sogar vergewaltigt von diesen litauischen Wirten. Und dann hieß es: Halt's Maul, sonst wird's noch schlimmer! Und die halten bis heute ihr Maul."
Eine Deutsche? Du spinnst!
In Litauen war das Schicksal der "Vokietukai", der "kleinen Deutschen" lange ein Tabu-Thema. Scham, ob des eigenen Verhaltens, und Vorurteile waren ein Grund. Ein anderer: "Die Angst, die den Leuten während der Sowjetzeit eingejagt wurde“, sagt der litauische Autor Alvydas Šlepikas. "Es drohte der ganzen Familie, in ein Lager nach Sibirien gebracht zu werden."
Nur nicht auffallen - auch deshalb durften viele Kinder nicht zur Schule. Deshalb brauchten sie einen neuen, litauischen Namen. Deshalb mussten sie litauisch sprechen und ihre deutsche Herkunft verleugnen. "Das war immer ein Geheimnis. Ich wusste, dass ich keine Rechte habe. Ich musste still sein und gehorsam. Und das hab ich auch gemacht", erinnert sich Luise. Selbst ihr Mann und ihre Tochter wussten jahrelang nichts von ihrem deutschen Ursprung. "Vor meiner Heirat habe ich meinem Mann gesagt: Ich bin eine Deutsche. Und er sagte: Ha, ha! Spinnst du? Und es war kein Thema mehr", erzählt sie.
Angst vor der "russischen Schwester"
Als Litauen 1990 unabhängig wurde, wich die Angst. Die "Wolfskinder" begannen, nach ihrer Familie zu forschen, schickten Suchbriefe an das Rote Kreuz. Luise fand darüber ihre Geschwister wieder - 48 Jahre nach der Trennung. Bei anderen "Wolfskindern" war es eine Suche im Ungewissen, denn gerade wer als kleines Kind nach Litauen gekommen war, hatte seine deutsche Vergangenheit oft längst vergessen.
Und nicht immer wollten die deutschen Verwandten etwas von den verlorenen Geschwistern wissen. Zu groß war mitunter die Angst vor der "russischen Schwester", die womöglich einen Teil des Erbes wollte.
Noch rund 80 "Wolfskinder" leben heute in Litauen, teils in sehr armen Verhältnissen. Ihre Rente ist karg, nur ein Teil ihrer Arbeitszeit wurde darauf angerechnet. Erst seit 2008 gestattet die litauische Regierung ihnen einen Zuschuss zur Rente, den sogenannten "Waisenzuschlag": 180 Litas, gut 50 Euro im Monat - wenn sie beweisen können, dass sie in Ostpreußen geboren wurden.
Ein Hampelmann bringt die Sprache zurück
Die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Deutschland zerschlug sich auch an den Hürden der Bürokratie, an fehlenden Sprach- und Schulkenntnissen. Der deutsche Staat trat den "Wolfskindern" eher zögerlich entgegen. Noch 2007 analysiert der ehemalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang von Stetten: Die "Wolfskinder" "leben letztlich in erbärmlichen Verhältnissen, und es ist eine Schande für den deutschen Staat, dass es trotz aller Anstrengungen nicht gelungen ist, diesen Menschen eine kleine Rente zuzusprechen."
Luise muss sich darum nicht sorgen. Sie konnte studieren, verdiente stets genug. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Vilnius. Das Wohnzimmer ist voller Bücher - auch auf Deutsch. Anfang der 1990er Jahre fand sie ihre Sprache wieder, eher zufällig: Als sie an einem Spielwarenladen vorbeikam, blitzte das deutsche Wort "Hampelmann" in ihrem Kopf auf. "Ich fragte: Woher weiß ich das? Ich war selbst überrascht, weil ich dachte, ich hätte alles verlernt. Und dann begann ich, deutsch neu zu lernen." Luise ist in Litauen angekommen. Und "Alfreda" konnte weichen.
DW-Journalistin Monika Griebeler war im Rahmen des journalistischen Austauschprogramms "Nahaufnahme" zu Gast in der Redaktion des litauischen Nachrichtenportals delfi.lt. Während dieses Projektes des Goethe-Instituts tauschen Journalisten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern für einige Wochen ihre Arbeitsplätze. Im Dezember 2012 war die litauische Journalistin Vytenė Stašaitytė zu Besuch bei der Deutschen Welle.