Leben mit dem Feind
8. Mai 2013DW: Ihr Buch schildert Alltag und Leben der Amsterdamer Bevölkerung in der Zeit von 1940 bis 1945. Ist das heute in den Niederlanden ein Thema?
Barbara Beuys: Das ist in den Niederlanden ein Thema schon seit 1945. Doch für 30, 40 Jahre hat man das Thema so gesehen: Die Deutschen waren die Bösen, die Niederländer waren die Guten und haben alle Widerstand geleistet. Nur ganz wenige haben mit dem Feind zusammengearbeitet. Das hat sich in den letzten zehn, 15 Jahren geändert. Es kommt eine neue Generation von Historikern, die sagt, die Vergangenheit ist nicht schwarz-weiß, sondern grau und differenziert und seitdem wird auch offen Kritik an dem eigenen Verhalten während der Besatzung geübt.
Wie sah denn das Verhalten der Niederländer damals aus, im Spektrum von Kollaboration, Apathie bis hin zum Widerstand?
Ich habe ein Problem mit dem Wort Kollaboration. Ich habe es in meinem Buch nicht benutzt, weil ich glaube, es ist so belastet und kann eine Meinung hervorrufen, dass die Opfer zu den Tätern werden, weil sie mitgemacht haben. Da muss man vorsichtig sein. Es war eine große Anpassung, hinter der der Glaube stand, wir können damit über die Zeiten hinwegkommen, wir können das aushalten. Und der Glaube, wir können die Juden, die niederländische Bürger waren, vor dem schützen, was in Deutschland geschehen ist.
Dann aber musste man sehen, dass diese sogenannte Salami-Taktik der Deutschen die Niederländer hinters Licht geführt hat. Sie wussten nicht recht, was soll eine "Ariererklärung" bedeuten. Sie haben gedacht, was in Deutschland passiert, wird hier nicht geschehen. Wir haben eine Anpassung in den ersten beiden Jahren. Dann kippt die Stimmung und es entstehen landesweite Widerstandsgruppen.
Wir kennen die Zeit der deutschen Besatzung in den Niederlanden durch das Tagebuch der Anne Frank.
Das ist sicherlich ein sehr emotionaler Zugang. Es ist aber auch ein problematischer, denn es ist ein winziger Mosaikstein in einem Großen und Ganzen. Ich versuche in meinem Buch zu zeigen, wie haben diese 800.000 Menschen, von denen rund zehn Prozent Juden waren, diese Zeit überstanden? Die Nazis haben im Oktober 1943 Amsterdam für "judenrein" erklärt. Das heißt, sie haben 107.000 Juden aus Amsterdam deportiert über Westerbork nach Sobibor und Auschwitz. Dort haben sie 102.000 von ihnen ermordet. Aber es bleiben ja noch 90 Prozent nicht-jüdische Amsterdamer. Wie haben sie weitergelebt? Das ist das, was ich in meinem Buch aufzeige.
Das Besondere ist, dass sich eine deutsche Historikerin dieses Themas annimmt. Wie unterscheidet sich Ihre Perspektive von der eines niederländischen Kollegen?
Ich war vorige Woche in Amsterdam beim Goethe-Institut zu einer Diskussion eines Historikers vom NIOD, das ist das große nationale Institut für den Weltkrieg. Er begann die Diskussion mit folgendem Satz: Er habe gedacht, um Himmels Willen, noch ein Amsterdam-Buch. Er hat nachgeschaut. Demnach gibt es 70 Bücher von niederländischen Historikern, aber keinen Gesamtüberblick. Es geht immer nur um einzelne Themen. Und es interessiert die Niederländer auch, wie sehen die damaligen Besatzer inzwischen unsere Zeit.
Ich glaube, was ich von außen vermitteln kann, ist ein kritischer Blick, wie sich die Amsterdamer verhalten haben, aber auch mit dem Versuch zu zeigen, dass die Deutschen Täter waren und in den Amsterdamern Hass hervorgerufen haben auf die Tatsache, dass sie in die Situation kamen, schuldig zu werden. Zum Beispiel, was die Deportation der Juden betrifft, wogegen sie eigentlich nichts unternehmen konnten.
Im Buch begegnen wir verschiedenen realen Personen. Eine Figur, die wir kennenlernen und die ganz besonders heraussticht, ist Salomon de Miranda, ein jüdischer Diamantschleifer, der sich in den 1920er/1930er Jahren als Sozialreformer in der Stadt verdient gemacht hat. Was hat Sie an ihm so fasziniert?
Salomon, genannt Monne, de Miranda ist mir sofort aufgefallen. Das war Sympathie auf den ersten Blick. Ich versuche im Buch, Biografien mit der großen Politik zu verbinden. Monne de Miranda ist einerseits typisch für die Entwicklung der jüdischen Arbeiter, die eng verbunden sind mit der Sozialdemokratie. Sie haben ihr Judentum nicht aufgegeben, aber den orthodoxen Teil ihrer Religion abgelegt. Sie haben dafür gesorgt, dass ihre Stadt in den 1920er Jahren eine sehr moderne Architektur bekommen hat, die man heute noch bewundern kann. Die zugleich aber auch die Toleranz und die Nonchalance der Amsterdamer Bevölkerung verkörpern, die ungeheuer sympathisch ist, aber auch zu einer gewissen Naivität geführt hat, weil sie glaubten, mit den Nazis verhandeln zu können.
Amsterdam ist bekannt für seine Offenheit, Weltgewandtheit und Toleranz. Was machte der Nationalsozialismus mit dem Geist der Stadt?
Es gehörte zur Taktik, zur Politik der weichen Hand im ersten Jahr der Besatzung 1940, dass sie diese Modernität aufrechterhielten. In den Theatern traten zum Beispiel zunächst jüdische Schauspieler auf. Die Amsterdamer hatten zunächst das Gefühl, das Leben geht weiter. Die Nazis erkennen dann, die Amsterdamer lassen sich nicht gewinnen, sie werden keine Nationalsozialisten. Somit fingen sie an, das einzuschränken. In der zweiten Hälfte der Besatzung im Jahre 1943 werden auch die Lebensmittel knapper. Die Stadt verelendet. Die Leute können ihre Kleider nicht mehr waschen. Die Straßen sind kaputt. Aus dem lebenslustigen Amsterdam wird eine traurige, graue Stadt.
Sie kommen gerade zurück von einer Lesereise in den Niederlanden. Wie wird das Buch dort angenommen?
Zum einen muss man wissen, dass dies das erste Buch eines deutschen Autors oder einer deutschen Autorin ist, das über diese traumatische Zeit berichtet und ins Niederländische übersetzt worden ist. Vor zehn Jahren wäre das sicher nicht möglich gewesen. Ich selber war sehr angenehm überrascht, dass in den vielen Interviews, die ich mit niederländischen Journalisten geführt habe, es nicht nur keine feindlichen Anmerkungen gab, sondern auch keine grundsätzliche Kritik und alle von diesem Buch sehr wohlwollend sprachen. Sie waren der Meinung, dass es gut ist, dass so etwas aus deutscher Sicht erscheint.
Das deutsch-niederländische Verhältnis war nach dem Krieg extrem belastet, es bessert sich erst in den letzten zehn, 15 Jahren. Welchen Beitrag leistet Ihr Buch zur weiteren Verständigung?
Das Buch leistet insofern einen Beitrag, als dass es zu allererst hier in Deutschland einen weißen Fleck füllt. Die allermeisten Menschen hierzulande sind ganz erstaunt über die schrecklichen Dinge, die seinerzeit in den Niederlanden passiert sind. Das hat damit zu tun, dass das Bild des Krieges von der Ostfront bestimmt ist, von den Schlachten, von schrecklichen Verwundungen, brennenden Dörfern. Viele Soldaten sind in dieser Zeit, wenn sie verwundet aus dem Osten kamen, zur Erholung in die Niederlande geschickt worden. Das war ein Paradies, es war friedlich.
Demzufolge hat sich in unserem Bewusstsein nicht eingeprägt, was dort geschehen ist, sondern es ist fast vergessen worden, weil es keine kriegerischen Handlungen in den Niederlanden gab. Doch wenn wir wissen, was die Deutschen dort angerichtet haben, können wir verstehen, warum die Niederländer so lange auf Distanz zu den Deutschen gegangen sind. Denn in diesem kleinen Land ist fast jede Familie betroffen gewesen. Vor allem, weil ab 1943 alle Männer zwischen 18 und 35 Jahren gezwungen waren, in Deutschland Arbeitsdienst zu tun. Da sind dann viele untergetaucht.
Wie ist das Bild der Deutschen in den Niederlanden heute?
Lange Zeit waren die Deutschen der Feind schlechthin. Das hat sich lange gehalten. Ich erinnere nur an Fussballspiele, die lange Zeit von Hass geprägt waren - bis in die 1980er Jahre hinein. Heute ist das völlig verschwunden. Im vergangenen Jahr hat Bundespräsident Gauck auf einer der großen Gedenkveranstaltungen zur Befreiung die Hauptrede gehalten. Das zeigt, dass sich das geändert hat. Die junge Generation weiß zwar von den Greueltaten, hegt aber keinen Hass mehr gegenüber den Deutschen. Im Gegenteil: Es ist ein freundliches Hin und Her an der deutsch-niederländischen Grenze.
Barbara Beuys: Leben mit dem Feind. Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945, Hanser Verlag 2012, Fester Einband, 384 Seiten, ISBN 978-3-446-23996-8