Wolfsburg hält den Atem an
23. September 2015Der Tag in Wolfsburg fängt schon unheilvoll an, düstere, dunkle Wolken am Himmel über dem Volkswagen-Werk am Ufer der Aller. Sie passen zur Situation des deutschen Autobauers seit Bekanntwerden des Abgas-Skandals. Im Fokus der Aufmerksamkeit: Martin Winterkorn.
Unweit des Hauptwerks verbringt er den Tag, der für ihn zum Schicksalstag wird. Der 68-Jährige muss dem Aufsichtsrat die zentrale Frage beantworten: Wie kann es sein, dass elf Millionen Autos mit Software ausgestattet sind, die dafür entwickelt wurde, um Behörden bei Abgastests hinters Licht zu führen?
Am späten Nachmittag dann die Bestätigung, der Himmel ist gerade ein wenig klarer: Winterkorn nimmt seinen Hut - um, wie er es in einem Statement formuliert, "den Weg für einen Neustart" freizumachen.
Neustart in eine ungewisse Zukunft
Das VW-Universum ist riesig: 70.000 Mitarbeiter allein im Stammwerk in Wolfsburg, dazu die Angestellten der vielen Zulieferfirmen. Und viele haben ihre Zweifel, ob es ihn geben wird, den von Winterkorn beschworenen Neustart. Denn die durch den Abgas-Skandal ausgelöste Krise ist durch den Rücktritt nicht vorbei - und mit ihr hält die Unsicherheit an, die Wolfburg fest im Griff hat.
Vor einer bei VW-Mitarbeitern beliebten Kneipe umweit des Werkstores "Sandkamp" versuchen die Arbeiter, die Nachricht von Winterkorns Rücktritt erst einmal zu verdauen. "Ich finde, das heißt, dass Piëch gewonnen hat", sagt ein Autobauer. "Er mag es einfach nicht, zu verlieren. Er wollte Winterkorn raushaben - und jetzt ist er draußen. Aber Winterkorn war ein guter Chef. Ich wette, Piëch wusste von den Abgas-Mauscheleien - und Winterkorn nicht."
Später Sieg für Piëch?
Er bezieht sich auf den Machtkampf zwischen Winterkorn und dem ehemaligen Vorstands- und später Aufsichtsratsvorsitzenden, Ferdinand Piëch, der lange als das Gesicht von VW galt. Piëch hatte im Frühjahr dieses Jahres versucht, Winterkorn zu stürzen - was mit seinem eigenen Rücktritt endete.
Verschwörungstheorien wie die des Arbeiters gibt es viele in diesen Tagen. Piëch hatte Winterkorn für VWs mangelnden Erfolg auf dem us-amerikanischen Markt verantwortlich gemacht - und der Skandal wurde in den USA publik, in dem Land, das Winterkorn zu seiner persönlichen Priorität als VW-Chef erklärt hatte.
Ein Zufall? Das Timing kommt einigen VW-Arbeitern verdächtig vor - aber die, die mit der Deutschen Welle sprachen, wollten ihre Namen nicht nennen: Sie haben Angst, dass ihnen eine besonders unsichere Zeit bevor steht - eine Zeit, die bestimmt ist durch eine beschädigte Marke VW, durch sinkende Verkäufe und Job-Abbau. "Niemand wusste von dieser Sache, aber wir werden alle davon betroffen sein", sagt VW-Mitarbeiter Stephan.
Frank, der den VW Touran mit zusammenbaut, sagt, dass er sich machtlos fühlt - aber dass er versucht, sich nicht zu viele Sorgen zu machen. "Diese Entscheidungen wurden auf höchster Ebene getroffen. Ich hatte darauf überhaupt keinen Einfluss", sagt er.
"Wir müssen abwarten, was die kommenden Tage bringen. Und wenn tatsächlich Kündigungen ausgesprochen werden, dann wird es wahrscheinlich die Teilzeit-Mitarbeiter zuerst treffen."
Wolfsburg ist Volkswagen, Volkswagen ist Wolfsburg
Das Schicksal von Volkswagen betrifft nicht nur die 70.000 Angestellten in Wolfsburg. Viele weitere arbeiten als Leiharbeiter bei VW. Auch sie haben Angst um ihre Jobs. "Man muss verstehen, dass Wolfsburg Volkswagen ist und Volkswagen Wolfsburg", sagt einer von ihnen, Ingo. "Wir rechnen damit, dass wir als erste gehen müssen. Und wir werden keine andere Arbeit in Wolfsburg finden."
Bislang steht noch nicht fest, wer Winterkorns Nachfolge antreten wird. Porsche-Chef Matthias Müller sei ein möglicher Kandidat, lauten die Gerüchte. Aber für manch VW-Arbeiter ist die wichtigste Frage nicht, ob Müller einen neuen Job bekommt - sondern vielmehr, ob er seinen behalten wird.