Die überförderten Kinder
16. Juni 2006Ein Klick im Schloss, dann öffnet sich die Wohnungstür. Die 14-jährige Carola Christ hat erst am späten Nachmittag wirklich Feierabend. Sie wirkt ein wenig müde, den ganzen Tag ist sie von einem Termin zum nächsten gehetzt. Für die Gymnasiastin ist das Alltag - und den schildert sie so: "Montags gehe ich erst in die Schule, von dort aus direkt in die Geigenstunde, fahre dann heim, mache Hausaufgaben, und um sechs Uhr habe ich dann Querflötenstunde und um viertel vor sieben Blockflötenstunde. Am Dienstag habe ich auch Schule und muss um drei Uhr wieder in die Stadt zum Ballett und komme um sieben Uhr heim. Am Mittwoch habe ich nur Schule. Und donnerstags habe ich nach der Schule wieder direkt Geigenstunde, gehe dann in die Klavierstunde und abends habe ich hier noch Blasorchester. Freitags gehe ich direkt nach der Schule ins Schulorchester und von dort aus direkt in den Chor."
Keine Zeit für Freunde
Ihre beiden jüngeren Brüder, der zehnjährige Johannes und der achtjährige Manuel, bewältigen in der Woche ein ganz ähnliches Pensum: Wie Carola spielen auch sie mindestens vier Instrumente - freiwillig, wie sie alle betonen. Den Anstoß gab aber letztlich die Mutter: Als Musiklehrerin war ihr eine frühzeitige musikalische Förderung ihrer Kinder besonders wichtig. Nebenbei erledigen die drei Kinder ihre Schulaufgaben, üben für ihre einzelnen Instrumente, kümmern sich um ihre gemeinsamen Tiere, engagieren sich in der Kirche und helfen ihrer Mutter im Haushalt. Für spontane Treffen mit Freunden bleibt da kaum Zeit. "Nach der vierten Klasse habe ich mich nicht mehr so mit Freunden getroffen", erzählt Carola. "Ab und zu dann mal, aber das war, glaube ich, nicht jeden Monat, sondern höchstens jedes halbe Jahr."
Schlimm finden das Carola und ihre Brüder aber nicht - sie haben keine Angst davor, etwas von ihrer Kindheit zu verpassen. Sie haben ja ihre Hobbys, sagen sie. Auch wenn es nicht immer leicht sei, diese mit der Schule zu vereinbaren. Aber bisher funktioniere das noch ganz gut. Zudem erkennen die Drei durchaus die Vorteile, die der ausgeprägte Musikunterricht mit sich bringe: Flexibilität, bessere Konzentrationsfähigkeit - von den guten Musiknoten ganz zu schweigen.
Unausgeschlafen in die Schule
Für viele Menschen ist die Kindheit eine unbeschwerte Zeit: Noch keine Sorgen um die Zukunft, wenig Verantwortung - und unendlich viel Zeit, um zu spielen. Auch heute haben Kinder in Deutschland etwa sechs bis sieben Stunden Freizeit, hat das Statistische Bundesamt berechnet. Doch immer mehr Kinder füllen diese Stunden mit immer mehr Terminen. Die Bildungsstudie PISA hat gezeigt, dass bereits die frühkindliche Bildung sehr wichtig für das weitere schulische Fortkommen der Kinder ist. In Deutschland allerdings, so die PISA-Studie, sei man von einer flächendeckenden und standardisierten Frühförderung der Kleinen weit entfernt. Viele Eltern, vor allem die, die es sich finanziell leisten können, suchen daher private Alternativen.
Doch zu viele Freizeitaktivitäten sind für Kinder nicht automatisch eine bessere Förderung, wie Herta Wipling, Diplompsychologin und Leiterin der Caritas in Mainz, erläutert. "Wenn die gesamte Freizeit wirklich in Stundenpläne eingeteilt ist, dann wird es natürlich auch zum Stress und die Kinder sind überfordert mit zu viel Freizeitprogramm." So könne es sich in den schulischen Leistungen niederschlagen, wenn die Kinder keine Zeit für Hausaufgaben hätten oder morgens unausgeschlafen seien. "Und dass es nicht auch mal Zeiten des Nichtstun gibt, die finde ich ganz wichtig", sagt Wipling. "Dass man Zeit hat, sich mit sich auseinanderzusetzen und nicht alles mit Aktivitäten zugepflastert ist."
Überforderung und Frustration
Zu diesem Ergebnis kommen auch verschiedene Studien in Deutschland: Freizeitstress kann ein Grund dafür sein, dass Schüler sich überfordert fühlen und den Eindruck gewinnen, dass die eigenen Bedürfnisse nicht zählen, haben Kinderärzte herausgefunden. Frustration oder Überforderung äußerten sich nach ihren Angaben oft in einem Leistungseinbruch in der Schule. Kinder brauchen Zeit zum Spielen, zum Ausleben ihrer Phantasien und zum Entspannen, um den Anforderungen im Schulalltag gewachsen zu sein, so die Mediziner.
Und auch die Kinder selbst fühlen sich gestresst: Für eine Studie mit dem Titel "Kinder und Zeit" wurden 1628 Acht- bis Vierzehnjährige in den USA und in Deutschland befragt. 81 Prozent der deutschen Kinder gaben dort an, unter Stress zu leiden. Das alles kümmert Carola, Johannes und Manuel heute aber nur noch wenig. Bei einem Fußballspiel wollen sie den Abend ausklingen lassen - und in Ruhe nochmals durchgehen, was sie morgen alles vorhaben.