Die DDR in privaten Filmaufnahmen
24. September 2019Das Projekt klingt sperrig: "Open Memory Box". Um welche Art von Erinnerungen es geht, bleibt zunächst offen. Auch wenn man die gleichnamige Website anklickt. Die Startseite ist extrem sparsam gestaltet: ein flimmernder schwarzer Hintergrund, in der Mitte die englische Bezeichnung des Archivs in dicken gelben Buchstaben. Das Ganze wirkt auf den ersten Blick rätselhaft. Wer schließlich das Wort "Info" ansteuert, erfährt endlich mehr:
- "Größte Digitalsammlung privater DDR-Schmalfilme"
- 415 Stunden Gesamtlänge auf 2.283 Filmrollen
- Historische Zeitspanne: 1947-1990
- 149 Familien aus 102 Orten
Das sind die statistischen Eckdaten des 2013 gestarteten Projekts "Open Memory Box". Die Idee stammt von Alberto Herskovits und Laurence McFalls. Der eine ist Dokumentarfilmer, der andere Politologe. Beide wurden im Jahr des Berliner Mauerbaus 1961 weit voneinander entfernt geboren – Herskovits in Argentinien, McFalls in den USA. 50 Jahre später lernten sie sich auf einem Fußballplatz in Berlin kennen. Ihr gemeinsames berufliches Interesse: die deutsche Teilung und ihre Folgen.
(Ost-)deutscher Alltag: Urlaub, Hochzeit, Kind
Schon bald kamen sie auf die Idee, der mehr oder weniger offiziellen Darstellung und Interpretation der DDR etwas entgegenzusetzen: "Geschichte von unten" nennt Filmemacher Herskovits den Ansatz im Gespräch mit der Deutschen Welle. Alltag, so wie ihn die Menschen vor allem im Privaten erlebten, darum geht es. Urlaub, Hochzeit, Kind – unter solchen Schlagwörtern lassen sich die schwarz-weiß und farbig gedrehten Filme aufrufen. Was das Originalmaterial eint: Es ist durchgängig ohne Ton.
Je älter die Aufnahmen sind, desto schwieriger lassen sie sich geografisch zuordnen. Viele Filme könnten auch aus dem Westen stammen. Der Strandurlaub an der Ostsee sah an der Nordsee genauso aus. Spielende Kinder im Garten gab und gibt es überall. Alberto Herskovits machte beim langjährigen Sichten des Materials immer wieder die Erfahrung, "dass wir uns viel ähnlicher als fremd sind."
Keine Verharmlosung der DDR, sondern Aufwertung des Lebens
Diese banal anmutende Erkenntnis geriet in den 45 Jahren der deutschen Teilung bis 1990, aber auch danach anscheinend immer wieder in Vergessenheit. "Open Memory Box" sei aber auch nicht der Versuch, die DDR im Nachhinein zu verharmlosen oder gar aufzuwerten, betont Herskovits. "Wenn überhaupt, geht es darum, den Alltag aufzuwerten, das Leben und die Gemeinsamkeiten." Auf Filmen aus dem Westen hätte man vielleicht mehr Statussymbole gesehen, "teurere Autos und flottere Wohnungen".
Laurence McFalls, Professor an der Université de Montréal in Kanada, hält die Schmalfilme für einen Anreiz, "wieder über die Vergangenheit nachzudenken und zu sprechen". Leider gebe es im Westen noch immer große Vorurteile gegenüber dem Osten, meint er. Und wenn es keine Vorurteile seien, handele es sich um Unwissen. Die Menschen im Osten fühlten sich oft "verachtet". McFalls hofft, mit seinem Projekt einen kleinen Beitrag zu leisten, "dass sich die Menschen mehr annähern".
Der etwas andere Blick auf die Weltfestspiele der Jugend 1973
Dabei geht es McFalls aber nicht nur um Gemeinsamkeiten, sondern auch um die Einsicht, dass "da Sachen waren, die anders waren." In den jetzt online aufrufbaren Filmen sind auch typisch sozialistische Szenen und Motive zu sehen: monotone Plattenbauten oder Massenaufmärsche wie bei den Weltfestspielen der Jugend 1973 in Ost-Berlin.
Ergänzt werden die Filme durch Zeitzeugen-Kommentare derjenigen, von denen die Filme stammen oder die darin zu sehen sind. "Geschichten" nennen die Projekt-Initiatoren diese ergänzenden Informationen. Dabei werden die tonlosen Original-Aufnahmen wie in einem Dokumentarfilm von einer Stimme aus dem Off eingeordnet. Manchmal ist auch Musik zu hören.
"Wir sehen lauter glückliche Menschen"
Der Historiker Frank Bösch findet diese Kombination faszinierend. "Es geht über das rein Wissenschaftliche hinaus, es hat etwas Spielerisches." Einerseits gebe es das "offizielle Gedächtnis", andererseits das "populäre". Die Filme zeigten das "ganz gewöhnliche Leben". Wie Menschen feierten, Urlaub machten, den Alltag sahen. Das breche gängige Vorstellungen, sagt der Direktor des Leibniz-Instituts für zeithistorische Forschung in Potsdam: "Wir sehen lauter glückliche Menschen."
Aber natürlich sei das nur ein Teil der DDR. Nun gehe es darum, diese Filme einzuordnen. Bösch verspricht sich für die Bildungsarbeit neue Anregungen im Umgang mit der DDR-Geschichte. In der ostdeutschen Diktatur sei Vieles kontrolliert und überwacht worden, aber natürlich habe es auch Freiräume gegeben. Die Filme seien bestens dafür geeignet, diese Freiräume genauer zu erkennen und zu bewerten, so der Historiker: "Sie geben Ansporn, eine Diskussion hierüber zu führen."