Diskriminierung in Schulbüchern bekämpfen
30. September 2013Der Soziologe Kenan Cayir von der Bilgi-Universität in Istanbul arbeitet seit elf Jahren an seinem Projekt "Menschenrechte in Schulbüchern". Gemeinsam mit einer türkischen Stiftung für Geschichte überprüft er Hunderte von türkischen Schulbüchern, um auf diskriminierende Inhalte gegenüber Minderheiten in der Türkei aufmerksam zu machen. Dazu gehören Bevölkerungsgruppen wie die Kurden, christliche Armenier, christlich-orthodoxe Griechen, Juden und Roma. "Die türkischen Schulbücher vermitteln einen exklusiven Nationalismus", kritisiert Cayir im DW-Gespräch. "In diesen Büchern existieren nur Türken in der Türkei. Kurden oder nicht-muslimischen Gemeinschaften wird in den Büchern kaum oder überhaupt keine Beachtung geschenkt."
Die Rechte von Minderheiten könnten in der Türkei demnächst gestärkt werden: Erdogan kündigte am Montag (30.09.2013) an, Privatschulen dürften in Zukunft auch in anderen Sprachen als Türkisch unterrichten. Im öffentlichen Dienst soll außerdem das zurzeit geltende Kopftuchverbot aufgehoben werden.
Mit dem Demokratiepaket "werden wir die Probleme meiner türkischen Brüder, meiner kurdischen Brüder, Araber, Lasen, Tscherkessen, Bosnier, Roma und jeder anderen Ethnie lösen", wurde Premierminister Recep Tayyip Erdogan von der Zeitung Hürriyet noch vor der Vorstellung der Neuerungen zitiert. Die größte Oppositionspartei der Türkei, CHP, kritisierte dagegen das Vorhaben der Regierungspartei AKP. "Wir wissen nichts über das Demokratiepaket. Es soll Demokratie in ein Land gebracht werden, aber die Öffentlichkeit weiß nichts darüber? So etwas gibt es nicht", wurde CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu vergangene Woche von der Hürriyet zitiert.
Vorurteile im Unterricht
Jenseits von politischen Meinungsverschiedenheiten hoffen Experten wie Cayir, dass sich tatsächlich etwas ändert durch das Demokratiepaket. Denn gerade die Kurden würden in der Türkei stark diskriminiert - das zeige der Blick in die Schulbücher, sagt Cayir: "Die Kurden werden in den untersuchten Büchern nur ein einziges Mal erwähnt: Im Kontext des türkischen Unabhängigkeitskrieges (1919 - 1923) werden sie als 'gefährliche Gemeinschaft' bezeichnet." Vorurteile gehörten damit zur Schulbildung und würden dem Nachwuchs in die Wiege gelegt, so Cayir.
Auch die in der Türkei lebenden Roma seien vielen Vorurteilen ausgesetzt. In den Schulbüchern würde man sie gar nicht erwähnen: Es erwecke den Eindruck, als würden sie nicht existieren, sagt Cayir. Außerdem habe die Regierung in Ankara erst vor drei Jahren zum ersten Mal auf politischer Ebene über die Probleme der Roma diskutiert.
"Die Roma werden in der Türkei nicht als eigene ethnische Volksgruppe definiert. Sie gelten ganz einfach als die unterste Schicht der Gesellschaft. Die Diskriminierung gegenüber den Roma ist daher vielmehr eine soziale Klassendiskriminierung", erklärt Elmas Arus, Vorsitzende des Menschenrechtsvereins '"Null Diskriminierung" in Istanbul. Es gibt keine genauen Angaben darüber, wie viele Roma in der Türkei leben. Manche sprechen von einer Million, doch viele schätzen die Zahl weit höher.
Unterschiede müssen anerkannt werden
Das Wort "Zigeuner" sei in der Türkei besonders negativ besetzt, so Arus: "Cingene (Zigeuner) bedeutet übersetzt so viel wie 'Unbehagen' oder wird gleichgesetzt mit einem Dieb oder einem unkultivierten Bürger". Das Ziel sei nun, das Wort "Zigeuner" komplett aus dem Wörterbuch zu streichen. "Wenn das Demokratiepaket auch ein Ausbildungsprogramm für Roma beinhaltet, dann gibt es Hoffnung für sie", so Arus. "Doch allein durch die Streichung des Wortes 'Zigeuner' wird man die Diskriminierung nicht verringern."
Der Soziologe Kenan Cayir betont ebenfalls, dass kulturelle Unterschiede und Identitätsfragen in der Türkei problematisch seien. "Die türkische Gesellschaft als Ganzes muss Unterschiede anerkennen", so der Soziologe. Das sei der wichtigste Schritt für ein friedliches Miteinander.