Diyanet: Bedrohung für die säkulare Ordnung
22. September 2021Der Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbas, ist bekannt für seine konservative Auslegung des Islam und eine Wertauffassung, die für viele Türken nicht in diese Zeit passt. Dass Erbas Homosexuelle und Ehebrecher für den Ausbruch der Corona-Pandemie verantwortlich machte, war nur eine von vielen fragwürdigen Äußerungen, die kritisch wahrgenommen wurden. Seit 2017 ist Erbas die oberste islamische Autorität - seine Präsenz in der türkischen Gesellschaft hat seither stetig zugenommen.
Bei der Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee im Juli 2020 hatte er seinen bis dahin vielleicht größten Aufritt: Er leitete die Zeremonie und führte während seiner Freitagspredigt ein Schwert mit sich. Die Geste, die an die osmanische Tradition angelehnt ist, empörte weite Teile der Gesellschaft. Viele sahen in der "Schwerttradition" eine bewusste Abkehr von dem republikanischen Erbe der Türkei.
Obligatorische Korankurse für Kinder
Seit diesem denkwürdigen Moment ist der Diyanet-Chef in der Türkei omnipräsent und das vielleicht wichtigste Sprachrohr der konservativen Kräfte. So forderte die Religionsbehörde zuletzt für vier- bis sechsjährige Kinder vor ihrer Einschulung obligatorische Korankurse. Um dieses Ziel zu erreichen, wolle man sich schon bald mit dem Bildungsministerium und Wissenschaftlern beraten. Eine Idee, die auch kritisch aufgenommen wurde, weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder betont, dass er eine "religiöse Generation" mit islamisch-konservativen Werten heranwachsen sehen wolle.
Auch in der digitalen Welt versucht die Religionsbehörde mitzumischen: In einer Veröffentlichung mit dem Titel "Die Ethik der sozialen Medien" plädiert die Diyanet dafür, die sozialen Medien mithilfe der islamischen Rechtsprechung zu regulieren und Fehlverhalten zu bestrafen, sofern gesetzliche Bestimmungen nicht ausreichen. Die türkische Regierung ist zurzeit bemüht, ihren Einfluss im Netz auszubauen.
Vor zwei Wochen erst war Erbas zusammen mit Präsident Erdogan bei der Eröffnung des Gerichtsjahrs - eine jährliche Zeremonie für Richter, die ihre Arbeit aufnehmen - beim türkischen Kassationsgericht in Ankara als Gäste eingeladen. Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik wurde die Zeremonie mit einem Gebet des Diyanet-Präsidenten eingeleitet.
Ist der Laizismus gefährdet?
Für die Opposition und Liberale ist die wachsende Präsenz der Diyanet ein Anzeichen dafür, dass der Laizismus - die Trennung von Religion und Staat - sukzessive ausgehöhlt wird. Erbas verteidigt hingegen den wachsenden Einfluss seiner Religionsbehörde: "Als Anführer muss man in jedem Bereich etwas zu sagen haben(…). Warum soll der Glaube nicht mitten in der Gesellschaft bemerkbar sein(...)?". Zudem plädierte er nachdrücklich dafür, dass der Islam in alle Lebensbereiche einfließen soll - auch in die Justiz.
"Ein Krieg gegen den Säkularismus"
Burcu Karakas, Journalistin und Expertin für die Religionsbehörde Diyanet, beobachtet deren wachsenden Einfluss mit Sorge. "Die Worte von Ali Erbas haben gezeigt, dass die Regierung mithilfe der Religion den öffentlichen Raum regulieren möchte. Die ursprünglichen Aufgaben der Diyanet, die eigentlich darin bestehen, Gottesdienste abzuhalten, wurden enorm ausgeweitet (…) Die Regierung führt einen Krieg gegen den Säkularismus. Und in diesem Krieg ist die Diyanet ein sehr wichtiges Werkzeug", schlussfolgert Karakas.
Die wachsende Bedeutung der Diyanet lässt sich auch daran erkennen, dass das Budget der Religionsbehörde in den letzten Jahren geradezu explodiert ist: Während sie im Jahr 2011 nur über einen Etat von drei Milliarden Türkische Lira verfügte, beläuft er sich im Jahr 2021 bereits auf 12,9 Milliarden Türkischen Lira – somit hat sich der Haushalt in nur zehn Jahren mehr als vervierfacht und übertrifft damit das Budget der meisten türkischen Ministerien. Ali Erbas hat übrigens noch reichlich Zeit, um seinen finanziellen und politischen Einfluss weiter auszubauen: Vergangenen Freitag wurde seine Amtszeit als Präsident der Diyanet vom Präsidentenpalast um fünf Jahre verlängert.
Mitarbeit von Hilal Köylü