Ruangrupa weist Antisemitismus-Vorwürfe erneut zurück
11. Mai 2022Im Januar war der Vorwurf zum ersten Mal aufgekommen: Ein Aktionsbündnis kritisierte in einem anonymen Blogbeitrag die Künstlerauswahl von Ruangrupa, dem indonesischen Kuratorenteam der "documenta fifteen". Die Weltkunstschau findet alle fünf Jahre in Kassel statt. Ruangrupa hat auch das palästinensische Künstlerkollektiv "The Question of Funding" eingeladen.
Das aber sei antisemitisch, weil die Künstler den kulturellen Boykott Israels unterstützten, so die Blog-Autoren. Ruangrupa und die Trägergesellschaft "documenta und Museum Friedericianum GmbH" wiesen die Anschuldigungen zurück. Auch der documenta-Aufsichtsrat und selbst Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/ Die Grünen) stellten sich hinter die Macher der Weltkunstschau. Die documenta-Gesellschaft wird von der Stadt Kassel und dem Land Hessen finanziert und durch die Kulturstiftung des Bundes finanziell unterstützt.
Die Kuratorinnen und Kuratoren von Ruangrupa meldeten sich zu Wort. Eingriffe in die künstlerische Freiheit kämen für sie nicht in Frage, erklärten sie zunächst. Wichtig sei politische Neutralität und Dialogbereitschaft. In einem zweiten Schreiben, das inzwischen in der "Berliner Zeitung" veröffentlicht wurde, wiesen sie die Anschuldigungen abermals zurück. "Im Rahmen der documenta fifteen wurden zu keinem Zeitpunkt antisemitische Äußerungen gemacht", betonte das indonesische Kuratoren-Kollektiv.
Trotzdem sollte - als Reaktion auf die Antisemitismus-Debatte - bei einem Expertenforum über das "Grundrecht der Kunstfreiheit angesichts von Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie" diskutiert werden. Geplant waren Online-Gesprächsrunden am 8., 15. und 22. Mai. Der Titel: "We need to talk!" Doch kurz vor dem Start wurde die Reihe überraschend abgesagt.
Keine Expertenrunde über Kunstfreiheit
"Die documenta hat, auch nach Rücksprache mit verschiedenen Teilnehmer*innen, entschieden, die für den 08., 15. und 22. Mai 2022 geplante Veranstaltungsreihe 'We need to talk! Art - Freedom - Solidarity' auszusetzen", ließ die Weltkunstschau Anfang Mai wissen. Die documenta werde "zunächst die Ausstellung beginnen und für sich sprechen lassen, um die Diskussion dann auf dieser Basis sachgerecht fortzusetzen". Auch heißt es in der Begründung: "Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das Ziel, das die documenta mit der Gesprächsreihe erreichen wollte, nämlich im Vorfeld der documenta fifteen einen multiperspektivischen Dialog jenseits institutioneller Rahmen zu eröffnen, nur schwer umsetzbar." Doch wolle man den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen und die bisherigen Ansätze "als verändertes Format vor Ort in Kassel" fortsetzen.
Offenbar reagierten die Veranstalter damit auf Bedenken, die zuletzt erneut öffentlich wurden.
Unmut hatte offenbar die Besetzung der Panels ausgelöst, wie ein Brief des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, an Kulturstaatsministerin Claudia Roth nahelegt. Schuster hat seinen Brief zwar nicht öffentlich gemacht, und Nachfragen der DW beim Zentralrat blieben unbeantwortet, doch konnte die Nachrichtenagentur dpa über wesentliche Passagen berichten. Schuster soll darin seine Kritik folgendermaßen begründet haben: Gegen Antisemitismus würden nur "klare Bekenntnisse und entschlossenes politisches Handeln auf jeder Ebene von Politik, Kunst, Kultur und Gesellschaft" helfen.
Falsche Fragen an das Expertenforum?
Wollte der Zentralrat selbst mit am Diskussionstisch sitzen? War Schuster mit der Auswahl der Experten nicht einverstanden? Oder hielt der Zentralrat die Fragestellungen des Forums für falsch? Eines der Gespräche thematisierte etwa - laut Ankündigung der documenta - Unterschiede im "deutschen und internationalen Antisemitismus- und Rassismus-Verständnis", ein anderes "das Phänomen des anti-muslimischen und anti-palästinensischen Rassismus". Das Spektrum der Diskutierenden sollte breit sein. Es reichte quer durch die internationale Kultur- und Wissenschaftslandschaft. Die Berliner Islamforscherin Schirin Amir-Moazami war ebenso zur Teilnahme eingeladen wie der israelische Autor Omri Boehm oder die Antisemitismusforscherin Marina Chernivsky, die auch Beraterin der Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland ist.
Hessens Wissenschaftsministerin Angela Dorn, die auch stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der documenta GmbH ist, hatte zuvor das Expertenforum begrüßt, "mit Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen wie Holocaust- und Antisemitismusforschung, Kolonialismus- und Rassismusforschung, Land Right Studies, Indigenous Studies, Recht, Medien sowie Kunst und Kultur". Dorn erklärte auf DW-Anfrage: "Ich bedauere sehr, dass diese Foren nun nicht in der geplanten Form zustande kommen."
Roth: "Antisemitismus hat keinen Platz auf der documenta"
Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte zuvor betont, Antisemitismus habe keinen Platz auf der documenta. "Deutschland mit seiner historischen Verantwortung sei ein "ganz besonderer Ort, was den Umgang mit Antisemitismus angeht und was den Umgang mit der Kunstfreiheit angeht". Die Weltkunstschau öffnet am 18. Juni in Kassel ihre Pforten. Bis dahin schwelt die Antisemitismus-Debatte weiter.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 4. Mai 2022 veröffentlicht und am 11. Mai 2022 aktualisiert.