DOK Leipzig 2020: Reise um die Welt
26. Oktober 2020Auf einem Schotterplatz schütten Mädchen eimerweise Wasser auf ihren Trainingsplatz, versuchen den Staub zumindest ein wenig zu bändigen. Asmee, 14 Jahre alt, trägt einfache Turnschuhe aus Stoff. Eben noch übte sie sich verspielt mit anderen Mädchen im Bockspringen. Jetzt steht sie hoch konzentriert auf einem Stück Pappe und stemmt Gewichte: Mit ausgestreckten Armen reißt der Teenager 75 Kilo über den Kopf. Captain Ramadan, so der Name des ungewöhnlichen Trainers, der auf diesem Straßentrainingsplatz im ägyptischen Alexandria ausschließlich Mädchen im Gewichtheben trainiert, nickt zufrieden.
"Als ich das erste Mal von Captain Ramadan und seinen Mädchen hörte, war ich von der Geschichte gleich gefesselt", erzählt Mayye Zayed, Regisseurin des Dokumentarfilms "Lift Like a Girl", einer der Wettbewerbsfilme bei dem renommierten Filmfestival DOK Leipzig. "Sie hat mich nicht mehr losgelassen." Über vier Jahre begleitete die ägyptische Filmemacherin gemeinsam mit einem kleinen Team die ungewöhnlichen Sportlerinnen - und den charismatischen Trainer, der - mal völlig außer sich, mal liebevoll - das Beste aus den Sportlerinnen rausholt.
Durch diese Langzeitbeobachtung gelingt es "Lift Like a Girl", mitzuerleben, wie aus der unbeholfenen Hauptfigur Asmee eine selbstsichere Frau wird. Dank ihres unermüdlichen Trainers gewinnt sie gar die panafrikanische Meisterschaft. "Diese Mädchen brechen Stereotypen. Sie kämpfen gegen eine Menge Widerstände an, schon allein wegen der Tatsache, dass sie als Frauen täglich auf der Straße trainieren", sagt Mayye Zayed.
Von Corona-Couch durch fremde Welten
Sicherlich ein wichtiger Film für die ägyptische Gesellschaft, in der sich Frauen weiterhin täglich behaupten müssen. Gleichzeitig ist der Kampfwille der Protagonisten, die weder gutes Equipment brauchen und sogar abends ohne Beleuchtung trainieren, von universeller Gültigkeit. Was braucht es wirklich, um Träume zu erfüllen?
Wieder einmal schafft es das Filmfestival DOK Leipzig - mit dem Fokus aufs Dokumentarische und einer handverlesenen Auswahl - verschiedene Lebensrealitäten in einem dichten Programm zu bündeln. Mithilfe von Protagonisten wie minderjährigen palästinensischen Intifada-Kämpferinnen, einer französischen Schäferin oder einem russischem Clown kann der diesjährige Festivalbesucher seine heimische Couch zumindest virtuell verlassen - um Antworten für Lebensfragen zu finden.
Denn DOK Leipzig hat sich, wie es bereits andere Filmfestivals seit Frühjahr diesen Jahres vorgemacht haben, für eine hybride Version entschieden. Das heißt: Ein Teil der Filme wird gemäß der Corona-Hygienemaßnahmen wie Sicherheitsabstand und Maskenpflicht in den Leipziger Kinos gezeigt. Gleichzeitig werden alle Filme per Live-Stream und On Demand zu sehen sein - aus Lizenzgründen allerdings nur deutschlandweit. Dennoch bekommen damit zumindest die deutschen Dokumentarfilm-Fans erstmals die Chance, das Leipziger Festivalprogramm von zu Hause aus zu erleben.
Das bedeutet aber auch, dass die Filme ohne Anwesenheit der Regisseure gezeigt werden. Mayye Zayed ist dennoch zufrieden. "DOK Leipzig ist eines meiner liebsten Festivals. Dass die Europa-Premiere meines Films hier läuft, ist etwas Besonderes für mich."
Filmproduktion während Corona-Pandemie
Besonders da "Lift Like a Girl" zeitgleich mit Ausbruch der Corona-Pandemie in die Postproduktion startete. Tonmischung in Dänemark, Farbbestimmung in der Schweiz - vieles musste "remote" bearbeitet und der Regisseurin zum Abgleich per Datentransfer nach Ägypten geschickt werden. Wegen der oftmals schlechten Internetverbindungen habe es viele schlaflose Nächte gegeben. "Außerdem war nicht klar, ob es überhaupt Festivals geben würde." Und somit hätte ihr Dokumentarfilm, an dem sie und ihr Team seit 2014 arbeiteten, keine Beachtung gefunden.
Insgesamt zeigt das Festival in diesem Jahr 150 Filme, 2019 waren es doppelt so viele. Der Festivalcharakter solle aber bestehen bleiben, so Christoph Terhechte. 2020 leitet er erstmals das Festival in Leipzig, zuvor hatte er das International Filmfestival Marrakesch und viele Jahre das Internationale Forum des Jungen Films der Berlinale verantwortet.
"Wir sehen das Streaming-Angebot als Erweiterung der Kinovorführungen", so der Festivalleiter. Alle Filme werden, ob im Kino oder online, zu einer festgelegten Zeit ihre Festivalpremiere feiern und danach für maximal zwei Wochen On Demand verfügbar sein.
Aus Underdogs werden Champions
Und so können vielleicht noch mehr Zuschauer als in einem normalen Jahr "Life Like a Girl" ansehen. Ein besonderer Film, der sich insbesondere für die Rechte von Mädchen einsetzt. Als Jungs am Gitterzaun den trainierenden Mädchen beleidigende Kommentare zurufen, schimpft Captain Ramadan laut und wirft mit kleinen Steinen nach ihnen. "Alle favorisieren Jungen, das ist doch nicht mehr zeitgemäß", erklärt der Trainer einem Vater auf dem Straßentrainingsplatz. "Mädchen sind viel wichtiger." Stark wie Stiere sollen sie werden.
"Was diesen Ort so besonders macht, ist, dass er offen für alle ist. Und es ist umsonst. Jeder kann kommen, trainieren und ein Champion werden", beschreibt Mayye Zayed das Straßentraining in "Lift Like a Girl". "Das ist, glaube ich, der Grund, warum all diese Mädchen dort sind: Hier bekommen sie eine Chance, die sie sonst nirgendswo erhalten."