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Kraftakt: Frauen mit Behinderung an der Uni

27. Juni 2021

Sie wissen, wie man Barrieren überwindet. Drei Frauen aus Deutschland, Kroatien und dem Irak berichten vom Leben mit Behinderung - und was Corona verändert hat.

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Porträt einer jungen Frau mit schulterlangen dunklen Haaren, die in die Kamera lächelt
Bild: Foto Stephan

Arwa Abdulhameed (28) studiert Soziale Arbeit an der Technischen Hochschule in Köln. Aufgewachsen ist sie im kurdischen Teil des Irak. Mit 15 Jahren hatte sie einen Unfall: "Das hat mein Leben komplett verändert." Seitdem ist sie querschnittsgelähmt, sitzt im Rollstuhl. Zur medizinischen Versorgung zog sie mit ihren Eltern nach Deutschland.

Sie braucht Unterstützung: Ein Pflegedienst kommt zu ihr, zusätzlich begleiten sie von morgens bis abends Assistenzkräfte: "Ich kann zwar meine Arme etwas bewegen, aber zum Beispiel nicht alleine essen." Ihre Assistenzkraft stellt ihr den Bildschirm für den Videochat mit der DW ein.

Die 28-Jährige studiert in Teilzeit, weil sie chronische Schmerzen hat und regelmäßig behandelt werden muss. Zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland war sie gerade im Praxis-Semester bei einem Treffpunkt für Kinder und Jugendliche: "Dann hieß es, wir müssen alles schließen. Da hängt man erstmal in der Luft." Sie belegte andere Studien-Module, die online angeboten wurden. Als der Treffpunkt wieder öffnete, durfte sie nicht weiterarbeiten. Als Risikopatientin mit Lungenschwäche sollte sie nicht so viele Kinder treffen.

Corona-Infektion: Angst und Hoffnung

Immer noch ungeimpft infizierte sie sich im April 2021 mit dem Coronavirus: "Am vierten, fünften Tag hatte ich Atemnot." Der Rettungswagen kam, doch in Köln waren die Kliniken voll. Sie kam in eine Nachbarstadt auf die Intensivstation, ohne Assistenzkräfte, ohne Familie, wurde beatmet. Sie hatte Angst zu sterben, sagt die Studentin, aber auch Hoffnung: "Wenn ich alles andere geschafft habe, muss ich das auch schaffen!" Nach elf Tagen konnte sie nach Hause.

Blick in einen Tunnel, der durch ein Aquarium führt. Vorne rechts sitzt eine Frau im Rollstuhl mit Gesichtsvisier, die hochschaut. Im Hintergrund sind drei junge Frauen mit Mund-Nasen-Schutz zu erkennen
"Inklusion sollte selbstverständlich sein" - Arwa Abdulhameed (re.) bei einem Ausflug mit Schwestern und Assistenzkraft (2020)Bild: privat

"Alles andere geschafft" - einfach war das nie für Arwa Abdulhameed, die mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Schon für die Schule zog die Familie um, auch manche Unis sind nicht barrierefrei, "mit dem Rollstuhl würde ich gar nicht reinkommen". Ihre Hochschule sei sehr engagiert, aber selbst hier sei mancher Weg mühsam: "Bis ich oben ankomme, ist die Hälfte der Sitzung vorbei." Auch die Cafeteria sei schwer zu erreichen: "Dann sieht man Studierende mit Beeinträchtigung umso weniger."

Barrieren in Bauten und Köpfen

Im Studium hat sie sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention beschäftigt, die Deutschland 2009 ratifiziert hat. Darin wird für Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Teilhabe gefordert - auch bei der Hochschulbildung. Die 28-Jährige stellt fest: Eigentlich müssten Barrieren in den Köpfen wie bauliche Barrieren längst weg sein. Die seien aber weder an Unis verschwunden noch in öffentlichen Gebäuden oder Arztpraxen. An ihrer Bahn-Haltestelle funktioniert der Aufzug seit Monaten nicht.

Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, betont, "dass Inklusion nichts Nettes, nichts Karitatives ist, sondern es ist ein Menschenrecht. In Deutschland leben etwa 13 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Sie haben in unserer Gesellschaft die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen auch." Politik und Gesellschaft müssten dafür sorgen, dass alle am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Strukturelle Barrieren erlebt Arwa Abdulhameed bei der Auseinandersetzung mit Behörden, wenn sie um den Anspruch auf Assistenz kämpfen muss. Barrieren in den Köpfen, wenn Menschen nicht sie ansprechen, sondern nur ihre Assistenzkräfte. Eine Frau drückte ihr zehn Euro in die Hand und weigerte sich, die zurückzunehmen. Die Studentin schüttelt den Kopf: "Als wenn Menschen im Rollstuhl betteln!"

Studie: Frauen mit Behinderung doppelt benachteiligt

An der Uni könne man mit manchen Professoren sehr gut über das Recht auf "Nachteilsausgleich" reden, etwa um Prüfungen später abzulegen, bei anderen falle das schwerer. Sie wünscht sich, dass Inklusion selbstverständlich wird und sie nicht bei jeder Praktikums- oder später Arbeitsstelle als erstes fragen muss, ob sie barrierefrei ist. Eine Studie der Aktion Mensch hat ergeben, dass Frauen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt doppelt benachteiligt sind.

Infografik Frauen mit Behinderung DE

Nach einer Befragung des Deutschen Studentenwerks hatten 2016 elf Prozent der rund 2,8 Millionen Studierenden eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die das Studium erschwert. Eine neue Befragung läuft gerade. Daten zu Lehrenden mit Behinderung liegen nicht vor.

Unis brauchen Vorbilder mit Behinderung

Es muss mehr Lehrende mit Behinderung als Vorbild geben, fordert Sasha Kosanic (46). Universitäten sollten damit werben, welche Hilfen sie Studierenden mit Behinderung anbieten. Die 46-Jährige arbeitet als Dozentin an der John Moores University in Liverpool.

Sie wuchs in Kroatien und Slowenien auf, absolvierte dort ihr Bachelor- und Masterstudium. Aufgrund einer Zerebralparese kann sie nur eine Körperhälfte kontrolliert bewegen. Alles geht langsamer: "Ich tippe mit einer Hand." Ohne Kreativität geht es nicht, sagt sie: Schon als Kind musste sie Wege finden, wie sie Dinge anders hinbekommt.

Eine Frau in Winterkleidung mit dunklen Locken steht am Straßenrand und umarmt eine große Figur im Plüschkostüm eines Fischotters - das Maskottchen der Paralympics 2002
Mit viel Disziplin und Einsatz: Sasha Kosanic nahm 2002 an den Winter-Paralympics in Salt Lake City teilBild: Privat

2002 nahm sie als Skiläuferin an den Paralympics in Salt Lake City teil. Das habe sie persönlich gestärkt, Disziplin und Organisationstalent geschult. Sie sagt: Viele Menschen mit Behinderung bringen solche Stärken mit, sonst könnten sie ihr Leben gar nicht meistern.

Aktive Inklusion - Leistung statt Zahlen

Für die Promotion ging Sasha Kosanic nach Großbritannien, in der Postdoc-Phase nach Deutschland. Sie musste um vieles kämpfen, sagt sie, fühlte sich nicht richtig gesehen: "Ich wurde schlechter bewertet, als ich tatsächlich bin." Im Sinne der Vielfalt und Nachhaltigkeit müsse sich das ändern. Das Bild des "perfekten Wissenschaftlers" sei oft "ein weißer Mann". Bei einer Befragung von Professorinnen und Professoren 2018 sagten fast 60 Prozent der Frauen, sie seien wegen ihres Geschlechts diskriminiert worden, bei den Männern waren es nur sechs Prozent. Kosanic sieht eine doppelte Diskriminierung: als Frau und Mensch mit Behinderung.

Eine Frau mit braunen kurzen Locken und einer schwarzen Brille im schwarzen Shirt schaut lächelnd in die Kamera. Im Hintergrund ist eine Rasenfläche und die Umrisse moderner Gebäude zu sehen
Sasha Kosanic, Dozentin an der John Moores University in Liverpool, wünscht sich mehr Wissenschaftler mit Behinderung als VorbilderBild: Voara Ralaiarijaona

Man solle nicht auf Zahlen sehen, sondern auf Leistung, fordert sie. Wenn sie eine Schwerbehinderung von 70 Prozent habe und für alles viel mehr Zeit brauche, könne man die Zahl ihrer Veröffentlichungen nicht mit der von Forschenden ohne Beeinträchtigungen vergleichen. Sie plädiert für aktive Inklusion, "positive Diskriminierung", und verweist auf Frankreich: Dort werden akademische Stellen ausgeschrieben, auf die sich nur Wissenschaftler mit Behinderungen bewerben können.

Forschungslücke: Klimakrise und Behinderung

Die Geographin arbeitet interdisziplinär, sie erforscht die Auswirkungen des Klimawandels auf die biologische Vielfalt und das Leben der Menschen. Menschen mit Behinderung seien durch extreme Klimakrisen-Folgen besonders gefährdet. Eine Forschungslücke, sagt sie. Mit einem Forscher-Team recherchierte sie - wegen Corona aus der Distanz - die Situation in Madagaskar.

Am Rand einer Weide mit Schafen stehen drei Frauen und ein Mann, die sich jeweils die Arme um die Schultern legen. Im Hintergrund ist eine große Wasserfläche vor bewaldeten Hügeln zu erkennen
Forscherteam, das die Folgen des Klimawandels in Madagaskar untersucht hat: Mialy Razanajatovo, Ravaka Andriamihaja, Sasha Kosanic, Jan Petzold (v.l.n.r.)Bild: Voara Ralaiarijaona

Sasha Kosanic setzt sich für Inklusion in der Bildung ein, besonders in MINT-Fächern: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. "In den MINT-Fächern sind wir wie seltene, gefährdete Arten", sagt sie lächelnd, dabei wisse man aus der Ökologie, wie wichtig Vielfalt sei: Wissenschaftler mit Behinderung könnten Neues in die Wissenschaft bringen.

Die Corona-Pandemie habe - neben allem Leid - auch Chancen für Menschen mit Behinderungen an Universitäten gebracht. Konferenzen seien per Video-Chat besser zugänglich. Es gebe jetzt auch virtuelle Feldforschung. Durch hybrides Arbeiten könnten Universitäten als Arbeitgeber nicht mehr so leicht argumentieren, dass sie keine passenden Arbeitsplätze einrichten können.

Digitalisierung und Inklusion

Mit Digitalisierung und Barrierefreiheit beschäftigt sich Dr. Irmhild Rogalla (55) seit langem. Die Wissenschaftlerin und Autorin arbeitet am neuen Institut für Digitale Teilhabe an der Hochschule Bremen. Zum Videochat-Interview mit der DW ist eine Gebärdensprachdolmetscherin zugeschaltet. "Ich kann zwar sprechen, aber ich verstehe nichts", sagt die Wissenschaftlerin. Sie hat jahrelang recherchiert, um Anwendungen zu finden, die den Bedürfnissen Gehörloser gerecht werden, erst für Telefonate, dann für Videokonferenzen.

Eine Frau mit kurzen blonden Haaren im schwarzen Rolli lächelt in die Kamera und deutet mir ihrem linken Zeigefinger auf eine Wand hinter ihr mit eng bedruckten Tabellen
Was bewirkt Digitalisierung für die Barrierefreiheit? Irmhild Rogalla arbeitet am Institut für digitale Teilhabe der Hochschule BremenBild: D.Witt, bildfang medien produktion, Bremen, 2021

Die Digitalisierung habe Fahrt aufgenommen, sagt sie, aber Querschnittsthemen wie Barrierefreiheit oder Datenschutz würden nicht ausreichend mitbedacht. Wenn man auf Künstliche Intelligenz und autonomes Fahren schaue, stelle man fest: "Diese wunderbaren Fahrzeuge haben nicht nur keinen Platz, keine Rampe oder Absenkung für Rollstuhlfahrer, die Türen bleiben nicht mal lange genug auf, damit jemand mit einem Rollator das Fahrzeug betreten kann." Das sei "keine Böswilligkeit", vieles werde von jungen, weißen Männern für junge, weiße Männer entwickelt - ohne Blick auf Teilhabe.

"Wer stellt so jemanden ein?"

Der Behindertenbeauftragte Dusel sagte: "Der Blick über den Tellerrand hat gezeigt, dass viele Länder im Bereich Inklusion ein ganzes Stück weiter sind als wir in Deutschland." In den USA können Gehörlose seit vielen Jahren kostenlos mit Unterstützung von Gebärdensprachdolmetschern telefonieren.

Ärgert sich Irmhild Rogalla, dass in Deutschland Nachrichten, Pressekonferenzen oder Vorlesungen kaum von Gebärdensprachdolmetscherinnen übersetzt werden? Auch zu Beginn der Corona-Krise musste das eingefordert werden. "Da müsste ich 24 Stunden am Tag wütend sein", kontert sie trocken.

Foto eines Monitors, auf dem zahlreiche Bilder von den Teilnehmern einer Video-Konferenz zu sehen sind
Inklusiver Online-Bewerbungstag des Hildgardis-Vereins für Studentinnen mit Behinderung und Arbeitgeber Bild: Hildegardis-Verein/Agathe Lukassek

Lange hat sie selbstständig gearbeitet. "Wer stellt so jemanden ein?", sagt sie. Beim Institut für Digitale Teilhabe sollen alle Mitarbeitenden eine Behinderung haben. Der Hildegardis-Verein aus Bonn hat bei einem inklusiven Online-Bewerbungstag "hochqualifizierte Frauen mit Behinderung mit Arbeitgeber*innen zusammengebracht". Beim Speed-Dating dort hat Irmhild Rogalla eine Frau mit Autismus-Spektrum-Störung kennengelernt. Sie ist jetzt in Bremen eingestellt.

Alle ignorieren, die sagen "Du kannst das nicht"

Arwa Abdulhameed in Köln hat mittlerweile einen neuen Praktikumsplatz, wo sie ein Projekt für Mädchen zum Thema Heimat anbietet. Sie versucht immer, auch das Positive zu sehen: "Auch wenn ich einiges verloren habe durch die Lähmung, habe ich andere Sachen gewonnen. Ich bin in einem anderen Land. Ich habe sehr gute Menschen kennengelernt und viele Dinge neu schätzen gelernt."

Eine Frau im Rollstuhl sitzt in einer Halle mit großen Fenstern einer Reihe von Mädchen unterschiedlichen Alters gegenüber, die man nur von hinten sieht
Was bedeutet Heimat für dich? An ihrem neuen Praktikumsort bietet Arwa Abdulhameed ein Projekt für Mädchen anBild: Privat

Die Studentin will weiter für ihre Rechte kämpfen. Dozentin Sasha Kosanic rät Studierenden mit Behinderung, alle zu ignorieren, die sagen: "Du kannst das nicht." Irmhild Rogalla blickt mit feiner Ironie auf den erwarteten Rückgang von Fachkräften: Da werde man wohl anfangen müssen, "Frauen und womöglich sogar Menschen mit Behinderungen einzustellen".

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