Duell der Philosophien
1. Juli 2004Individualisten gegen Kollektiv, Attacke gegen Defensive, tschechische Angriffslust gegen griechische Betonkunst, moderne Viererketten gegen Vorstopper und Libero - im Estadio Dragao von Porto prallen im Duell der Trainer-Füchse zwei Fußballweltanschauungen aufeinander: Karel Brückners "Laissez-faire"-Fußball gegen Rehhagels "kontrollierte Defensive".
"König", "Gott", "Zeus" - die Superlative für Griechenlands deutschen Erfolgstrainer Otto Rehhagel sind bei dem unglaublichen Parforceritt seiner Griechen durch die Europameisterschaft kaum noch steigerungsfähig. Rehhagel wurde von offizieller Seite sogar die griechische Staatsbürgerschaft angetragen.
Doch den an der Grenze zur Hysterie wandelnden Hellenen werden weitere Wortschöpfungen einfallen, wenn das blau-weiße Wunder von Portugal weiter geht. Zwei Siege fehlen dem in der FIFA-Weltrangliste vor EM-Beginn als Nummer 57 eingestuften vermeintlichen Fußball-Zwerg noch zur größten Sensation der EM-Geschichte - zuvor hatten die Griechen noch nie ein Spiel bei einem großen Turnier gewonnen. "Wir sind jetzt so weit gekommen, haben den Europameister aus dem Rennen geworfen und wollen noch mehr. Warum sollen wir nicht auch ins Finale einziehen?", fragt Bremens Stürmer Angelos Charisteas.
Exodus nach Portugal
An Unterstützung wird es den Griechen jedenfalls nicht fehlen. Fast 10.000 griechische Fans werden im Stadion sein. Tausende Fans der griechischen Fußball-Nationalmannschaft sind noch am Mittwoch in die Flughäfen des Landes geströmt, um die Reise nach Porto anzutreten. Die günstigsten Reisen liegen bei rund 650 Euro (für Hin- und Rückflug am gleichen Tag), die teuersten inklusive Endspiel am kommenden Sonntag bei 1500 Euro, berichtete das Fernsehen. Die griechische Nova-Bank bot sogar einen speziellen EM-Kredit an, um einheimischen Fans die Tages-Charterreise nach Portugal zu ermöglichen. Ein 1000-Euro-Kredit, der innerhalb von einem halben Jahr zurückgezahlt werden muss, wurde zu 2,5 Prozent Zinsen angeboten.
Rehhagel selbst stapelt gewohnt tief: "Die Tschechen sind klarer Favorit. Wir wollen unsere geringe Chance aber nutzen, um ins Finale einzuziehen", erklärte "König Otto". Dem 65-jährigen Strategen werden im taktischen Pokerspiel mit dem nicht minder schlitzohrigen Kontrahenten Brückner noch ein paar überraschende taktische Kniffe zugetraut. Vermutet wird, dass der gelernte Weißbinder gegen die gefürchtete tschechische Offensive um Koller und Baros noch etwas mehr Beton anrührt und eventuell mit drei Innenverteidigern agieren lässt. "Wir sind eben keine Brasilianer und werden deshalb unseren Stil nicht ändern, der uns zum Erfolg geführt hat. Alle werfen uns vor, destruktiv zu spielen, aber wir sind damit effektiv", verteidigt Mittelfeldspieler Georgios Karagounis Rehhagels Strategie.
Bloß nicht in Rückstand geraten
Die Tschechen hingegen haben reichlich Respekt vor der hellenischen "Mauer". Trainer Karel Brückner will vermeiden, mit Hurra-Fußballs in griechische Konter zu laufen. "Wir müssen geduldig spielen", sagte der Coach. "Das erste Tor wird entscheidend sein. Wenn wir es machen, müssen die Griechen von ihrer Spielweise abgehen", sagte Torjäger Milan Baros. In der Vorrunde gerieten die Tschechen jedoch drei Mal in Rückstand. "Wenn wir in Rückstand geraten, dann wird es ganz schwer", meinte Tomas Rosicky, der mit Kapitän Pavel Nedved Ideen entwickeln soll, um Griechenlands Beton-Deckung zu knacken.
Ausgerechnet Nedved geht allerdings mit Bammel in das Spiel: weniger vor den Griechen, vielmehr vor einer Gelben Karte. Es wäre die zweite - und im Fall eines Endspieleinzugs seiner Mannschaft wäre er zum Statisten degradiert. So erging es ihm schon 2003 im Champions-League-Endspiel in Manchester mit Juventus Turin - die "alte Dame" verlor ohne Europas Fußballer des Jahres im Elfmeterschießen gegen den AC Mailand. "Für mich ist dies die vielleicht letzte Gelegenheit, einen großen Titel mit der Nationalmannschaft zu erringen", sagte Nedved. "Ich will der Mannschaft unter allen Umständen helfen." Der tschechische Verband versuchte zwar noch, die Europäische Fußball-Union (Uefa) dazu zu bringen, die Verwarnung von Nedved gegen die Dänen nach einem Foulspiel gegen Jesper Grönkjaer zu überdenken. Doch die Gelbe Karte bleibt bestehen.
Die Bilanz spricht klar für den Europameister von 1976: In sechs Spielen kassierten die Griechen fünf Niederlagen und holten nur ein Unentschieden - allerdings mit Warneffekt: Denn das 0:0 vom 17. April 2002 trug schon die Handschrift von Rehhagel. (sams)
Die voraussichtlichen Mannschaftsaufstellungen:
Tschechien: 1 Cech - 2 Grygera, 21 Ujfalusi, 5 Bolf, 6 Jankulovsky - 8 Poborsky, 4 Galasek, 10 Rosicky, 11 Nedved - 9 Koller, 15 Baros
Griechenland: 1 Nikopolidis - 2 Seitaridis, 5 Dellas, 19 Kapsis, 14 Fyssas - 21 Katsouranis (8 Giannakopoulos), 7 Zagorakis, 20 Karagounis, 6 Basinas - 9 Charisteas, 15 Vryzas
Schiedsrichter: Collina (Italien)