Durchatmen auf Lesbos
13. September 2015Demonstrationen, Rangeleien, Auseinandersetzungen mit der Polizei: Die Ausschreitungen auf Lesbos zu Beginn der Woche waren das Ergebnis gleich mehrerer Faktoren. Eine nie dagewesene Menschenzahl floh vor der Gewalt in Syrien. Die griechische Regierung zog es vor, auf dieses Ereignis nicht zu reagieren. Und eine empörte Bevölkerung musste mit anschauen, wie sich die Insel durch die große Menge der Flüchtlinge veränderte.
Umso größer war die Erleichterung, als nach einigen Tagen der Unruhe rund 20.000 Flüchtlinge auf von der Regierung gecharterten Fährschiffen nach Athen gebracht wurden.
Die Überbleibsel des Dramas kann man am Strand zwischen Mithymna und Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos, sehen: riesige Haufen leuchtender orangefarbener Schwimmwesten, platte Schlauchboote und Reifen. An einigen Stellen sucht man die sonst so typischen Kieselsteine vergeblich: Sie sind verdeckt unter der gewaltigen Menge ausrangierter Materialien. Vorsichtig bahnen sich Einheimische auf ihrem Weg zum täglichen Bad im Meer den Weg durch das Geröll. Plünderer durchwühlen die Überbleibsel nach Verwertbarem. So interessieren sie sich etwa für die Außenbordmotoren, die sie aus den Verankerungen reißen.
Regierungshilfe im letzten Moment
"Wir sind mit der Flüchtlingskrise bereits seit einigen Jahren konfrontiert. Aber Ende Januar 2015 stiegen die Zahlen gewaltig – von rund 600 Personen pro Tag im März auf 1.500 im Juli", sagt Marios Andriotis, Pressesprecher des Bürgermeisters von Lesbos, im Gespräch mit der DW. "Als wir gesehen haben, wie die Zahlen stiegen, haben wir versucht, die Dringlichkeit des Themas deutlich zu machen. Wir haben die Zentralregierung um Hilfe gebeten, doch ohne Erfolg. Dabei hat eine Gemeinde wie unsere im Umgang mit solchen Herausforderungen doch keinerlei Erfahrung."
Die städtischen Beamten, berichtet Andriotis, schätzten, dass in den vergangenen zwei Monaten mehr als 90.000 Flüchtlinge nach Lesbos kamen – das ist mehr als die Bevölkerung der gesamten Insel.
"Hätten wir die erbetene Hilfe rechtzeitig erhalten, wäre es zu den Zusammenstößen nicht gekommen", sagt Andriotis. "Das Schlimmste konnten wir mit Hilfe der Regierung gerade noch verhindern. Sie reagierte auf unsere Anfrage erst im letzten Moment. Hätten wir die Herausforderung auf ordentliche Weise bewältigen können, hätte das auch dem Ruf der Insel gut getan." Doch nun seien die Bewohner der Insel verunsichert: "Nach den Spannungen der vergangenen Wochen müssen wir uns nun mit Eltern auseinandersetzen, die ihre Kinder nicht zur Universität schicken wollen, wo diesen Monat das Semester beginnt."
Widerstand der Einheimischen
Doch Bürgermeister Spyros Galinos hatte nicht nur mit mangelnder Unterstützung durch die Regierung in Athen zu kämpfen. Ebenso sah er sich dem Widerstand von Einheimischen gegenüber, die gegen Pläne für zusätzliche Bearbeitungszentren protestierten. "Sie beschweren sich zu Recht darüber, dass Flüchtlinge sich auf Schulhöfen und an den Straßenrändern niederlassen", berichtet Andriotis. "Wenn wir ihnen dann aber eine Lösung vorschlagen, wie man die Flüchtlinge in die Lage versetzen könnte, Lesbos schnell zu verlassen, winken sie ab."
Mit Sorge schaut Andriotis auf den nahenden Winter: "Wir wissen, dass rund drei Millionen Menschen darauf warten, das Mittelmeer zu überqueren. Und sie werden kommen."
In Mytilene selbst ist die Zeltstadt der Flüchtlinge inzwischen fast vollständige verschwunden. Geblieben ist nur der Geruch, den die vielen Menschen auf dem engen Raum ohne Sanitäranlagen hinterlassen haben. Zugleich ahnen die Bewohner von Lesbos, dass die derzeitige Ruhe nicht lange anhalten wird.
Hilfe als Wahlgeschenk?
Sophia, eine junge Kellnerin in einem Cafe am Hafen, traut den Absichten der Regierung nicht. Die Räumung des Lagers, sagt sie, sei bloß im Hinblick auf die kommenden Wahlen geschehen. "Sobald die vorüber sind, werden sich schnell wieder die alten Zustände einstellen." Wie Sophia denken viele in der Stadt.
Djamal Zamoum, Notfall-Koordinator für den UNHCR, sagt, das Flüchtlingskommissariat habe sich zunächst auf eine beratende Rolle beschränkt. Dann aber habe sich immer deutlicher gezeigt, wie komplex die Situation ist. "Als wir vor drei oder vier Wochen bemerkten, dass die Behörden nicht die Kapazitäten hatten, die wachsenden Flüchtlingszahlen zu bewältigen, haben wir uns dazu entschlossen, praktische Hilfe anzubieten", berichtet er im Gespräch mit der DW.
"Wir arbeiten mit verschiedenen Organisationen zusammen, um bei Schutz, der Versorgung mit Nahrung und der Registrierung der Flüchtlinge Hilfe zu leisten. Für den Winter raten wir den Behörden, nicht mehr als 5.000 Flüchtlinge gleichzeitig auf der Insel zuzulassen. Wir brauchen eine effiziente Registrierungsstelle, so dass die Flüchtlinge Lesbos so schnell wie möglich verlassen können. Außerdem brauchen wir für den Winter Häuser statt Zelte in den Lagern".
In Kara Tepe, nur wenige Kilometer außerhalb von Mytilene, warten syrische Flüchtlinge derzeit auf Papiere, um weiter nach Athen reisen zu können. Derzeit ist das Lager fast leer, doch der stark verunreinigte Boden lässt noch das große Ausmaß der Flüchtlingsmengen erahnen. Ursprünglich war das Lager für 600 Personen ausgelegt. Am Ende lebten über 3.000 Menschen dort.
Zu den Bewohnern zählt auch die 18-jährige Syrerin Laleh. Die Flucht aus Aleppo sei sehr gefährlich gewesen, berichtet sie. Nun will sie in die Niederlande, wo ihre Tante lebt. "Doch eines Tages werde ich zurück nach Syrien gehen. Syrien war ein Paradies."