EU-Gipfel als Superspreader-Event?
17. Dezember 2020Noch ist nicht klar, wo und bei wem sich der französische Präsident mit Corona angesteckt hat. Aber seine Infektion ist der "worst case" für die Organisatoren der Gipfeltreffen in Brüssel. Denn es könnte am Donnerstag und Freitag letzter Woche bei den Marathonverhandlungen zum EU-Haushalt und zum gemeinsamen Klimaziel passiert sein.
Ist "gut" bei Corona nicht "gut genug"?
Die Angestellten im Rat tun seit Beginn der Pandemie mit Maskengebot, Abstandsregeln und stark verkleinerten Delegationen alles, um eine Reihenansteckung der Regierenden zu verhindern. So darf jeder Spitzenpolitiker nur noch fünf Berater zu den Verhandlungen mitbringen. Alle tragen ständig Maske, das Händeschütteln wurde durch allerhand seltsame Ellbogen- oder Verneigungsrituale abgelöst.
"Während des Gipfeltreffens wurden alle Hygienemaßnahmen eingehalten, und wir haben keine Informationen, dass andere Teilnehmer oder Mitarbeiter positiv getestet wurden, die dabei waren", erklärte ein Ratssprecher. Aber Präsident Macron könnte an diesem Datum einige seiner Kollegen gefährdet haben, ohne dass man bisher davon weiß. So hatte er ein bilaterales Treffen mit der Bundeskanzlerin, die allerdings besonders sorgfältig auf Abstand achtet und stets möglichst sichere FFP2-Masken trägt. Das Bundeskanzleramt meldete jetzt, Angela Merkel sei inzwischen negativ getestet worden und schicke Macron Genesungswünsche.
Der belgische Premier Alexander de Croo und sein portugiesischer Kollege Antonio Costa sind allerdings Macron bereits in die Quarantäne und die Heimarbeit gefolgt. Costa, der im Januar von Kanzlerin Merkel die Ratspräsidentschaft übernimmt, hatte mit Macron zu Mittag gegessen. Dabei haben notwendigerweise beide zwischendurch ihre Masken abgenommen.
Im Grunde müssten jetzt alle Gipfelteilnehmer, die physisch im Ratsgebäude waren, eine Welle der Kontaktverfolgung auslösen. Aber sowohl die Regeln als auch die Praxis dazu sind in allen EU-Ländern unterschiedlich, hier war es bislang nicht möglich, Einheitlichkeit herzustellen. Und dann scheint es auch Auslegungsunterschiede zu geben: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war zwar auch bei dem Treffen, ließ aber am Donnerstag durch ihren Sprecher erklären, sie sei am Montag negativ getestet worden und sehe keinen Grund zum Rückzug.
Am Montag lud Macron erneut zu einem Spitzentreffen nach Paris: Bei der Jubiläumsfeier zur Gründung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) waren einige Regierungschefs, darunter der Spanier Pedro Sánchez, erneut physisch anwesend. Er und der belgische EU-Ratspräsident Charles Michel befinden sich mittlerweile auch in Quarantäne. Im Oktober hatte es von der Leyen und die finnische Premierministerin Sanna Marin getroffen, nachdem sie Kontakt mit infizierten Mitarbeitern gehabt hatten. Beide mussten danach ins Homeoffice. Und im September musste Ratspräsident Michel aus dem gleichen Grund einen Gipfel verschieben.
Zoom und Co. sind leider nicht die Lösung
Theoretisch hätten die Regierenden schon im Frühjahr beschließen können, nur noch mittels Webplattformen zu verhandeln. Die Realität zeigte aber, dass dabei jeder nur seinen Sprechzettel abliest. Und weil es am Rande eines solchen Videogipfels keine bilateralen Treffen und auch keine privaten Austauschmöglichkeiten ohne Aufzeichnung gibt, kommt in der Regel nichts zustande.
So gab es in Brüssel in der vorigen Woche nur deshalb einen Durchbruch bei den gemeinsamen Klimazielen der EU, weil die anderen Regierungschefs sich stundenlang intensiv mit ihrem polnischen Kollegen Morawiecki und seinen Sonderwünschen befassen konnten. Nach intensiven politischen Verhandlungen stimmte er am Ende zu und es kam zum gemeinsamen Beschluss.
Ähnlich war es beim blockierten Haushalt: Auch hier zeigte die Bundeskanzlerin ihre besonderen Verhandlungsfähigkeiten, so dass Polen und Ungarn - nach entsprechender Vorbehandlung - am Ende einen Kompromiss eingingen und das Multi-Milliarden-Paket von EU-Budget und Corona-Aufbaufonds freigegeben werden konnte. Der Marathongipfel im Juli, als um diesen Fonds vier Tage lang gerungen worden war, beweist dass so etwas nur möglich ist, wenn die Regierungschefs sich in die Augen schauen.
Ähnliche Erfahrungen machte man mit den Brexit-Verhandlungen: Solange sie nur virtuell stattfanden, blieben sie quasi ergebnislos. Deshalb beschlossen die Unterhändler Barnier und Frost - die beide übrigens Corona schon im Sommer überstanden hatten - wieder von Angesicht zu Angesicht zu verhandeln. Vor allem in der Schlussphase wollen sie - zumindest oberhalb der Maske - das Weiße im Auge des Gegners sehen können.
Besonders geschlagen von den Einschränkungen ist der Journalismus. Seit Beginn der Pandemie finden Pressekonferenzen und Hintergrundtreffen nur noch virtuell statt - und sind entsprechend frustrierend. Die Sprecher suchen sich selbst die Fragen aus, die sie beantworten möchten, und wer nicht drankommt, hat Pech gehabt. Nachfragen sind kaum möglich und kleine Kontakte am Rande, kurze Treffen zum Kaffee oder in der Lobby fallen weg. Gerade bei wichtigen Gipfeltreffen hat man das Gefühl, mit der Stange im Nebel von Twitter und Social Media zu stochern.
Wenn sich die Infektionen bei Bürgern wie Politikern weiter so rasant verbreiten, könnte Europa quasi unregierbar werden. Erst wenn die Regierungschefs und ihre Stäbe sowie die Spitzen der Ministerien auch geimpft sind, können sie wieder zu einer Art Normalität zurückkehren. Auch im nächsten Halbjahr ist in der EU viel zu tun - es geht um den Neustart der Volkswirtschaften mithilfe des Corona-Fonds, um die gemeinsame Flüchtlingspolitik und vieles mehr. Für Brüssel wäre es ein Gewinn, wenn die Spitzenpolitiker in Europa sich möglichst bald wieder gemeinsam an einen realen Tisch setzen könnten.