Ein Gipfel, zwei Krisen: EU zwischen Ukraine und Israel
27. Oktober 2023Die EU wollte mit ihrem Herbst-Gipfeltreffen beweisen, dass sie zwei schwere Konflikte auf einmal meistern kann: die Terror-Attacken der militant-islamistischen Hamas auf Israel und den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Allerdings fiel es den 27 Staats- und Regierungschefs und -chefinnen zunehmend schwer, gemeinsame Standpunkte zu beiden Krisenherden zu formulieren.
Am Freitag, dem zweiten Gipfeltag, lag der Fokus auf der Ukraine. EU-Ratspräsident Charles Michel versicherte erneut: "Wir wiederholen, unsere Unterstützung für die Ukraine bleibt unerschütterlich solange sie nötig ist."
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, nahm diesmal nicht persönlich am Gipfel teil, sondern war zeitweise per Video zugeschaltet. Die Lage im Nahen Osten lenke nicht von der Bedrohung ab, die Russland auch für die EU darstelle, so Ratspräsident Charles Michel. Deutschland habe der Ukraine in den vergangenen drei Wochen immer wieder zugesichert, dass man "in der Unterstützung nicht nachlassen" werde, trotz der schrecklichen Angriffe der Hamas auf Israel, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz.
Orban und Fico bremsen Ukraine-Hilfe
Kritik gab es am ungarischen Premierminister Viktor Orban, der vergangene Woche den russischen Aggressor Wladimir Putin bei einem Wirtschaftsgipfel in Peking getroffen und ihm dabei freundlich die Hand geschüttelt hatte. Orban gilt bei vielen EU-Diplomaten mittlerweile als eine Art U-Boot Putins in der Europäischen Union, weil Ungarn nach wie vor gute Wirtschaftsbeziehungen zum Kriegsgegner der Ukraine unterhält.
In Brüssel sorgte Orban zusammen mit dem frisch gewählten slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico für Kopfzerbrechen. Beide Populisten stellten die Finanzierung weiterer Budgethilfen für die Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro in den nächsten Jahren in Frage. Außerdem lehnen beide offenbar den Vorschlag ab, zusätzlich 20 Milliarden Euro in einem gesonderten Fonds für Waffenlieferungen an die Ukraine bereit zu halten.
Die Uneinigkeit in der Ukraine-Politik führte dazu, dass der mehrjährige Haushaltsrahmen der EU nicht an die vielen Krisen der letzten Jahre angepasst werden konnte. Mit einem Abschluss des Haushaltstreits ist jetzt erst im Dezember zu rechnen. Das wird von den Haushaltspolitikern im Europäischen Parlament als zu spät kritisiert.
Die deutsche Position ist unverändert, dass zusätzliche Mittel für die Ukraine und Migration durch Umschichtung im Haushalt gefunden werden müssen. Zusätzliche Mittel der Mitgliedsstaaten möchte Berlin nicht einsetzen. Die EU-Kommission fordert bis 2027 insgesamt 65 Milliarden Euro an Mehrausgaben. Davon müsste Deutschland als größter Nettozahler in der EU rund 25 Prozent übernehmen.
"Schwierige haushaltspolitische Fragen"
Insgesamt beträgt das sieben Jahre währende Budget der EU von 2021 bis 2027 rund 1,1 Billionen (1.100 Milliarden) Euro. Der Ratspräsident der EU, Charles Michel, wollte den Disput um Ukraine-Mittel und den Haushalt als normalen Vorgang darstellen.
"Das ist immer die gleiche Übung. Wir kommen zusammen. Wir streiten und am Ende sind wir dann doch vereint." Der Haushalt muss einstimmig verabschiedet werden.
Viele Regierungschefs machten deutlich, dass die Ukraine auch unter verzögerten Beschlüssen nicht leiden solle. "Das Geld wird irgendwo herkommen, weil wir uns ein Scheitern der Ukraine nicht leisten können", versicherte ein EU-Diplomat.
Am Haushalt hängen aber nicht nur die Hilfen für die kriegsgebeutelte Ukraine, sondern auch die Finanzierung von Investitionen in die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Auch da seien Entscheidungen und nicht nur tröstende Worte nötig, meint Zach Meyers, der am Center for European Reform, einer Denkfabrik in London, forscht.
"Die EU steht vor schwierigen haushaltspolitischen Fragen. Die EU-Kommission will von den Mitgliedsstaaten eine eher bescheidene Summe für eine gemeinsame Industriepolitik. Doch selbst diese eher kleine Summe ist fraglich, weil manche EU-Staaten klamm sind und andere lieber gegeneinander konkurrieren, wenn es um Wirtschaftsförderung geht", kritisiert Zach Meyers. Vielmehr sollte sich die EU auf die Konkurrenz mit China und den USA bei Investitionen und Lieferketten konzentrieren.
Frankreichs Präsident kritisiert Israel
Die humanitären Korridore, Feuerpausen und eine internationale Friedenskonferenz, die der Europäische Gipfel gestern am späten Abend nach langer Diskussion in Bezug auf Israels Krieg gegen die militant-islamistische Hamas gefordert hatte, lieferten auch am Freitag erneut Diskussionsstoff. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der die Friedenskonferenz vorgeschlagen hatte, kündigte die Gründung einer "humanitären Allianz" mit Griechenland und Zypern an, um die Bevölkerung des Gaza-Streifens zu versorgen.
Israel führt nach den Terrorattacken vom 7. Oktober Luftschläge gegen die Hamas aus. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, den Norden des nur 30 Kilometer langen Landstrichs zu verlassen.
Die Fluchtmöglichkeiten sind jedoch begrenzt. Die Vereinten Nationen bezeichnen die Versorgungslage im abgeriegelten Gaza-Streifen inzwischen als katastrophal. Emmanuel Macron kritisierte vor Journalisten in Brüssel die Luftangriffe als "undifferenziert" und forderte erneut einen Waffenstillstand.
Scholz steht zu Israel
Bundeskanzler Olaf Scholz blieb bei seiner Haltung, dass Israel, das Recht habe, sich so zu verteidigen. Das müsse im Rahmen des internationalen Rechts geschehen. Er glaube, dass Israel sich daran halten werde. Die gerade beschlossene Position der EU sei "sehr, sehr wertvoll", sagte Scholz, ohne auf die abweichende Meinung des französischen Präsidenten einzugehen.
Der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez konnte sich sich mit seiner Forderung nach einem offiziellen Waffenstillstand nicht durchsetzen. Der irische Premier Leo Varadkar meinte die Stimmung, die nach den Terrorangriffen der Hamas zugunsten Israels ausfiel, kippe langsam wegen des Vorgehens Israel im Gaza-Streifen.
Das wollte Bundeskanzler Olaf Scholz so nicht einschätzen. "Ich sehe unverändert, dass es eine breite Unterstützung für die Politik der europäischen Regierungen und auch Europas gibt, entlang unserer jetzt auch festgelegten Haltung zu agieren." Israel verteidige sich gegen eine Attacke. Die Haltung der Bürgerinnen und Bürger dazu habe sich nicht verändert.
Eine israelische Diplomatin sagte der DW am Rande des Gipfeltreffens, die Beschlüsse der EU würden vor Ort keine Wirkung haben. Israel lasse sich weder Pausen noch Waffenstillstand vorschreiben. Den könne es eigentlich auch nicht geben, weil der Krieg gegen die Strukturen der Hamas am Boden noch gar nicht richtig begonnen habe.
"EU sollte überall mitmischen"
Die EU forderte die Terrororganisation Hamas auf, die über 220 verschleppten Geiseln sofort freizulassen. Der scheidende Regierungschef von Luxemburg, Xavier Bettel, mahnte, man müsse auch die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen als Geiseln der Hamas ansehen. Sie würde als menschlicher Schutzschild von der Hamas missbraucht, was nach dem Kriegsvölkerrecht verboten ist.
"Wir müssen aufpassen, dass wir Hamas und Palästinenser nicht vermischen. Die Hamas hält die Palästinenser als Geiseln im Moment, das ist eine Tatsache, "sagte Xavier Bettel, der zehn Jahre als Regierungschefs des kleinen europafreundlichen Luxemburg amtierte.
Seine Lehre aus diesen zehn Jahren sei, dass die EU es immer geschafft habe, alle Krisen mit am Ende gemeinsamen Beschlüssen zu meistern. In der Außenpolitik sei das besonders schwierig. Hier habe die EU trotz ihrer wirtschaftlichen Größe und Stärke immer noch Probleme, Einfluss auszuüben. "Wir sind groß, aber agieren klein", lautet die Bilanz von Xavier Bettel. Dabei sollte die EU doch überall "mitmischen, um Eskalation zu vermeiden."