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Ein Tag, an dem sich alles entscheiden kann

Roman Goncharenko27. Januar 2014

Eine Woche nach dem Ausbruch gewaltsamer Proteste tritt das ukrainische Parlament zu einer Sondersitzung zusammen. Repressive Gesetze sollen fallen, verhaftete Demonstranten freigelassen werden.

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Ukraine Parlament Opposition Blockade Kiew
Bild: Reuters

"Söhnchen, hast du auch eine Mama? Bitte denk an sie, gehe nach Hause." Eine ältere Frau in einem grauen Mantel und einem bunten Wollkopftuch spricht zu einem Polizisten. Ein kräftiger Mann Ende 40, schwarze Uniform, ein Offizier. Er hört der Frau höflich zu, sagt aber nichts.

Solche Szenen spielten sich am Montag (27.01.2014) überall im Kiewer Regierungsviertel ab. Der wenige Quadratkilometer große Stadtteil auf dem Petscherski-Hügel gleicht in diesen Tagen einer belagerten Festung. Tausende Polizisten stehen auf der Straße oder wärmen sich in Bussen. Immer wieder versuchen Passanten, sie zum Aufgeben zu bewegen. "Ihr müsst das Volk schützen und nicht das verbrecherische Regime", sagt ein Mann zu fünf Polizisten, die auf einem Armeelaster stehen. "Bist du etwa das Volk?", erwidert ein Polizist, der sein Gesicht hinter einer Maske versteckt. "Geh weg hier!"

Im Regierungsviertel könnte sich am heutigen Dienstag entscheiden, ob die politische Krise in der Ukraine friedlich ausgeht oder ob weiteres Blutvergießen droht. Das Parlament, die Oberste Rada, will in einer Sondersitzung über die Forderungen der Demonstranten beraten.

Ein Streitpunkt ist entschärft

Dabei konnte ein zentraler Streitpunkt bereits am Vorabend entschärft werden: Die aus Sicht der Opposition "diktatorischen Gesetze" vom 16. Januar 2014. Sie schränken Demonstrationsrechte deutlich ein. Wer sich an Protesten beteiligt, wird bestraft. Wer sein Gesicht vermummt, wird bestraft. Wer in Medien oder sozialen Netzwerken zu einem Regierungswechsel aufruft, wird bestraft. Das Strafmaß reicht von einer Geldbuße bis hin zu 15 Jahren Haft.

Schlägerei im ukrainischen Parlament (Foto: REUTERS/Gleb Garanich)
Bei der umstrittenen Abstimmung am 16. Januar kam es zu Schlägereien zwischen AbgeordnetenBild: Reuters

Diese Gesetze kriminalisieren zehntausende Protestteilnehmer, die seit Wochen gegen den Präsidenten Viktor Janukowitsch und seine Regierung demonstrieren. Auslöser der Proteste war ein außenpolitischer Kurswechsel des Staatschefs, der sich geweigert hatte, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Stattdessen strebt Janukowitsch eine Annäherung an Russland an. Doch bei den Protesten spielt das inzwischen eine untergeordnete Rolle. Die meisten Demonstranten wollen einen innenpolitischen Wechsel und mehr Demokratie.

Von Verfassungsänderungen…

Bislang war der Präsident nicht bereit, die umstrittenen Gesetze wieder zu kippen. Doch nach mehr als vierstündigen Verhandlungen haben sich Opposition und Regierung am Montagabend auf deren Abschaffung sowie eine Amnestie für Demonstranten geeinigt. Justizministerin Jelena Lukasch sagte, die Abgeordneten sollten auch die Verantwortung der Regierung für die Gewalt gegen Demonstranten erörtern.

Diesen Worten müssen nun Taten folgen. Zumal der Teufel oft im Detail steckt. So hat der Präsident zwar zugestimmt, einen Teil seiner Befugnisse zu Gunsten der Obersten Rada aufzugeben; wie und wann die Verfassung geändert wird, ist aber offen. Die Opposition verlangt eine sofortige Entscheidung.

…bis Neuwahlen

Und schließlich soll über vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen beraten werden. Das ist die Kernforderung der Protestler. Der Präsident lehnte sie bisher ab. Stattdessen hatte er der Opposition vorgeschlagen, die Regierungsführung mit zu übernehmen.

Die Oppositionsführer wollten darauf nicht eingehen, denn das würde die Mehrheit der Demonstranten nicht mittragen. Deutlich wurde das bei einem Auftritt der Oppositionsführer auf dem Unabhängigkeitsplatz. Arsenij Jazenjuk von der Partei "Batkiwschtschina" (Vaterland) wurde von den Demonstranten ausgepfiffen, als er sagte, die Opposition sei bereit, Verantwortung zu übernehmen. Janukowitsch hatte ihm den Posten des Ministerpräsidenten angeboten.

Protestlern droht Spaltung

Die Agenda der Parlamentssitzung ist so komplex, dass es mehrere Tage dauern kann, bis alle Punkte besprochen und gelöst sind. In einer gemeinsamen Erklärung zeigten sich die Oppositionsführer zu weiteren Verhandlungen bereit. Doch nicht alle Oppositionellen wollen noch warten. Wenn es am 28. Januar keine konkrete Entscheidung geben werde, würden die Proteste in die Nähe des Parlaments rücken, drohte der frühere Innenminister Jurij Luzenko bei einem Gespräch mit Protestlern. Luzenko gilt als Anhänger eines Sturms auf das Regierungsviertel.

Portrait von Vitali Klitschko (Foto: EPA/ZURAB KURTSIKIDZE)
Oppositionsführer Vitali Klitschko warnt vor einer Eskalation der Gewalt in KiewBild: picture-alliance/dpa

Unterdessen wird immer deutlicher, dass die Oppositionsführer einen Teil der Protestler nicht kontrollieren. Sie distanzierten sich von denjenigen, die am Montag weitere Ministerien in Kiew besetzt hatten. Das seien "Provokateure". Einiges spricht dafür, dass die Lage außer Kontrolle gerät. Genau davor warnte in einem DW-Interview der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko von der Partei UDAR (Schlag).

Die besonders radikalen Protestler an der Hruschewski-Straße sagen, sie seien zu einer weiteren Eskalation bereit. Sollte ihre Kernforderung nach einem Rücktritt des Präsidenten nicht erfüllt werden, werde weiter gekämpft. Fast stündlich entstehen auf Kiews Straßen neue Barrikaden.