Eine Formel für die Kurilen-Frage?
14. Dezember 201615 Mal haben sich beide Regierungschefs, Japans Premier Shinzo Abe und Russlands Präsident Wladimir Putin, schon getroffen. Aber eine Begegnung in Japan gab es noch nie. Das ändert sich nun: Am Donnerstag besucht Putin zuerst die südjapanische Heimatregion Yamaguchi von Abe. Am Freitag folgt ein bilateraler Wirtschaftsgipfel in Tokio. Auf der Tagesordnung stehen die vier umstrittenen Kurilen-Inseln weit oben. Diese sind eine Inselgruppe zwischen der russischen Halbinsel Kamtschatka und der japanischen Insel Hokkaido und werden derzeit von Russland verwaltet und von Japan beansprucht. Würde der Territorialstreit beseitigt, könnten Japan und Russland 71 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg formal Frieden schließen. Die damalige Sowjetunion hatte den Friedensvertrag von San Francisco mit Japan vom September 1951 nicht unterschrieben.
Die Erwartungen auf einen Durchbruch sind stark gestiegen, nachdem Abe bei einem Treffen mit Putin im russischen Sotschi im Mai 2016 eine "neue Herangehensweise" an das Problem auf den Tisch gebracht hatte. Die Details ließ er offen. Aber es wird spekuliert, dass es um einen Vorschlag nach dem Muster "Zwei Inseln plus alpha" geht. Das bedeutet konkret: Japan bekommt die kleinen Inseln Shikotan und Habomai plus ein weiteres Zugeständnis von Russland. Danach würde ein Friedensvertrag unterzeichnet.
Das "alpha" könnte eine gemeinsame Wirtschaftszone für die Inseln oder ein späterer gemeinsamer Besitz der beiden großen Inseln Kunashiri und Etorofu sein. Als zusätzlichen Anreiz will Japan großzügige Wirtschaftshilfe an Russland leisten. Dennoch erwarten viele Beobachter nicht, dass ein Kompromiss schon bei diesem Gipfeltreffen erreicht werden kann. "Dafür ist das Thema viel zu kompliziert", betonte ein ehemaliger japanischer Diplomat.
Warum ist eine Lösung so schwierig?
Bisher haben die Nationalisten in beiden Ländern die wenigen Kompromissversuche blockiert. Russland hält die "südlichen Kurilen" für rechtmäßiges Territorium als Folge des von Japan verlorenen Zweiten Weltkriegs. Japanische Nationalisten bestehen auf der kompletten Aufgabe russischer Souveränität über die "nördlichen Territorien". Dort leben jedoch inzwischen Zehntausende Russen. Sie erhalten seit 2007 spezielle Wirtschaftshilfe von Russland. Zudem sind dort Militäranlagen installiert, zuletzt Raketenabwehrgeschütze.
Putin dürfte es schwerfallen, russisches Territorium aufzugeben. Abe wiederum muss den Zorn von Ultranationalisten fürchten, falls Japan nur die kleinen Inseln erhält.
Welche Lösungen wurden versucht?
1956 beendeten Japan und die Sowjetunion den Kriegszustand und erklärten, bei einem Friedensvertrag würden die beiden Inseln Shikotan und die Habomai-Gruppe an Japan übertragen. Diese Zusage wurde von der UdSSR später zurückgezogen.
1992 machte Russland einen Geheimvorschlag, stufenweise über die Rückgabe der vier Inseln zu verhandeln. Dieses Vorgehen wurde von japanischer Seite abgelehnt. Im März 2001 bestätigten Putin, damals in seiner ersten Präsidentschaft, und Premier Yoshihiro Mori im russischen Irkutsk, dass die Erklärung von 1956 die gültige Grundlage für Friedensverhandlungen sei. Zwei japanische Diplomaten und der Politiker Muneo Suzuki handelten eine Konfliktlösung nach der Formel "Zwei plus alpha" aus. Doch sie konnten sich gegen die Hardliner im japanischen Außenministerium nicht durchsetzen.
Inzwischen wurde Suzuki jedoch der wichtigste Berater von Premier Abe im Kurilenstreit. "Falls wir eine Lösung finden wollen, müssen wir an den Ausgang der Gespräche denken und realistische Vorschläge machen", betonte Suzuki im September. In die gleiche Kerbe schlägt der Ex-Diplomat Kazuhiko Togo, einer der beiden Verhandlungsführer von 2001. "Falls Japan auf der Rückgabe der Souveränität über alle vier Inseln besteht, wird bei den Verhandlungen nichts herauskommen", meint Togo, heute an der Universität Kyoto Sangyo.
Wieso ist die Kurilen-Frage plötzlich aktuell?
Japans Regierungschef Abe sucht seit seinem Amtsantritt Ende 2012 die Annäherung an Russland, um Japan in der Rivalität mit China zu stärken. Dafür muss der Kurilenstreit vom Tisch. Putin hatte seinerseits im März 2012 wiederholt, er wolle den Streit mit Japan durch einen "Hikiwake" (Begriff für "Unentschieden" aus dem Judo) beenden und die wirtschaftlichen Beziehungen verbessern. Dabei denkt er an die Entwicklung des russischen Fernen Ostens. Doch die Verhandlungen auf Beamtenebene wurden eingefroren, als Japan wegen der Besetzung der Ukraine Sanktionen gegen Russland verhängte.
Zur Jahreswende nahm Russland die Gespräche unerwartet wieder auf, obwohl die Sanktionen noch in Kraft sind. Möglicherweise will Putin die Front der Sanktionsländer über die Gespräche mit Abe aufweichen. Seine Motivation für einen Deal mit Japan könnte jedoch nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten nachgelassen haben. Denn Trump will die harte Linie von Barack Obama gegen Putin offenbar nicht fortsetzen.
Jedoch bleibt Japan und Russland noch Zeit für eine Verhandlungslösung, da die Hauptakteure erst einmal nicht wechseln. "Solange Abe und Putin im Amt sind, gibt es die Möglichkeit eines Friedensvertrags", meint der russische Ex-Vize-Außenminister Alexander Panow. Als Botschafter in Tokio war er 2001 an der Findung der Formel "Zwei plus alpha" beteiligt. Bei dem Gipfel im Dezember werde jedoch nichts passieren, sagt Panow voraus: "Beide Länder sind für die notwendigen radikalen Schritte noch nicht bereit."