Das Maine/Nebraska Modell
5. November 2012Allein die Vorstellung dürfte Wahlstrategen im US-Wahlkampf erblassen lassen: während einer Tour durch das 'blaue', d.h. mehrheitlich parteilich demokratische Kalifornien macht Mitt Romneys Tourbus eine 300-Meilen weite Schleife um Los Angeles herum. Er hält in Santa Barbara, Orange County und San Diego kurze Reden, und kreuzt dabei zehn Wahlkreise, in denen der Ausgang der Präsidentschaftswahl als knapp angesehen wird, sogenannte "swing" Wahlkreise. Dann geht's zügig weiter nach New York.
In der Zwischenzeit übertragen Nachrichtensender Präsident Barack Obamas morgendliche Rede in Dallas, Texas. Die einstündige Veranstaltung trifft den Nerv in den fünf unentschlossenen "swing" Landkreisen in dem Bundesstaat. Zurück im Flugzeug bereitet sich der Präsident auf die Auftritte in seinem Heimatstaat vor. Klar, Illinois hat Obama in der Tasche. Aber die Wahlkreise 11 bis 19 will er auf keinen Fall an Romney verlieren.
Das Wahlkreisbasierte System
Hillary Clinton und Millionen frustrierte Demokraten hatten nicht unbedingt das Wahlrecht in den Bundesstaaten Maine und Nebraska im Sinn, als sie nach dem Fiasko bei der Wahl 2000 eine Reform des Wahlmännerkollegiums forderten. Es ist allerdings die simpelste Reform.
Jeder Bundesstaat könne diese Reform durchführen, erklärt Tara Ross. "Dafür braucht man keine Verfassungsänderung", so die Autorin von "Enlightened Democracy: The Case for the Electoral College" gegenüber der Deutschen Welle.
Auf den ersten Blick erscheint ein bezirksbasiertes Wahlrecht fair. Die Präsidentschaftswahl 2008 zeigte Amerikanern auch, wie das System funktioniert.
Damals gewann McCain zwei und Obama einen der drei Wahlkreise des Staates Nebraska. Da McCain die Mehrheit aller Stimmen gewonnen hatte, bekam er auch die beiden wahlkreisunabhängigen Wahlmänner des Staates zugesprochen. Endergebnis: vier für McCain, einer für Obama.
"Wenn viele Bundesstaaten dieses wahlkreisbasierte System übernehmen würden, müsste man überall mehrere Wahlkreise gewinnen, um die Präsidentschaftswahl zu gewinnen", erklärt Ross. Swing-Staaten würden mehr oder weniger durch Swing-Wahlkreise ersetzt.
Wie würde das Maine/Nebraska-System funktionieren, wenn es in allen US-Bundesstaaten angewendet würde? Um das herauszufinden, übertrug Andrew Gelman, Politologe und Statistikprofessor an der Columbia University, das Modell mit Hilfe dreier Kollegen auf die Daten der vergangenen Wahl. Das Ergebnis war schockierend.
Parteipolitische Tendenzen
Landesweit angewendet, würde das Maine/Nebraska-Modell die Präsidentschaftswahl durchschnittlich um zehn Prozent verändern, so Gelman. "Bei 538 Wahlmännerstimmen gewinnt die Republikanische Partei 54 dazu", meint der Professor. Die Tendenz ist seit 20 Jahren und fünf Präsidentschaftswahlen Republikanisch.
Da jeder Staat zwei wahlkreisunabhängige Wahlmänner - "at-large" Kandidaten- stellt, profitieren dünn besiedelte Staate unproportional von dem Maine/Nebraska-Modell. Von den 25 bevölkerungsärmsten US-Bundesstaaten tendierten zum Beispiel 15 in den vergangenen fünf Präsidentschaftswahlen dazu, für republikanische Kandidaten zu stimmen. Nur sechs Staaten wählten mehrheitlich die Demokraten; fünf waren Swing-Staaten.
Auf die Wahl 2012 angewendet, weist das Modell einen überraschenden 296 zu 247 Sieg für den Republikaner Mitt Romney aus. Verhandeln müsste er trotzdem.
Tea time
Denn: Romney wurde zwar 2012 von der Versammlung des Republican National Convention als Kandidat für die Wahl zum Präsidenten nominiert - aber Ron Paul, der "geistige Großvater der Tea Party Bewegung", erhielt circa zehn Prozent der Stimmen. Er unterstütze Mitt Romney nicht vollkommen, so Paul damals vor Journalisten.
Bei einem landesweiten Maine/Nebraska-Modell wäre Paul immer noch im Rennen. Und wenn Wahlkreise so abstimmten wie in den Wahlen zum amerikanischen Abgeordnetenhaus 2010, könnte die Präsidentschaftswahl am 6. November ergebnislos ausgehen, mit 247 Stimmen für Obama, 235 für Romney und 61 für Paul.
"Es wäre nicht das Ziel dieser Kandidaten zu gewinnen", meint Tara Ross. "Ihr Ziel wäre es, eine Quotenwahl zu erzwingen. Sie wären dann einflussreiche Lobbyisten."
Eine Quotenwahl ist laut amerikanischer Verfassung angesagt, wenn keiner der Präsidentschaftskandidaten 50 Prozent oder mehr der Wahlmännerstimmen erhält. Das Repräsentantenhaus bestimmt dann den Sieger. Eine "bizarre" Vorgehensweise, findet der Politologe Gelman.
Ein Staat, eine Stimme
"Bei diesem Verfahren erhält jeder Staat eine Stimme, da wäre die parteipolitische Voreingenommenheit noch größer", stellt er fest. Da die Republikaner im Repräsentantenhaus in der Mehrheit sind, würde die Wahl wohl an Mitt Romney gehen.
Es gibt aber noch andere Probleme, erklärt Tara Ross. "Im Laufe der Zeit würden Kandidaten bemerken, wie einfach es ist, und das würde sie anspornen. So hätte man nicht nur einen Außenseiter, sondern fünf oder sechs." Auch könnte die Versuchung, die Wahlbezirkseinteilung zu manipulieren, zu groß werden, meint die amerikanische Autorin. "Ein Multi-Parteien-System würde uns zerbrechen und spalten."
Wenn es nach ihr ginge, bliebe alles, wie es ist. Das System des Wahlmännerkollegiums habe Amerika dazu gebracht, sich auf seine Gemeinsamkeiten zu besinnen - "auf das, was uns ausmacht als Amerikaner", meint Ross.
Auch Andrew Gelman ist der Meinung, die Reformidee sollte auf die lange Bank geschoben werden - langfristig. "Die Leute reden immer mal wieder über den Vorschlag" sagt er. "Ganz offensichtlich ist es keine gute Idee."