Bundeswehrreform bedroht viele Kasernen-Standorte
24. Oktober 2011Gut 18 Monate liegt es schon zurück, dass Peter Rainer einen neuen Aktenordner angelegt hat. Mit grünem Filzstift schrieb der Bürgermeister von Hohentengen "Rettung der Oberschwabenkaserne" darauf. Seither ist viel passiert, der Aktenordner quillt beinahe über.
Eine "Charme-Offensive" für "unsere Soldaten" hat der 43-Jährige in seiner 4500-Einwohner-Gemeinde gestartet. In unzähligen Gesprächen hat er politische Entscheidungsträger über die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der Kaserne aufgeklärt, gerade für seine strukturschwache Region im südlichen Baden-Württemberg. Der CDU-Bürgermeister schließt den Ordner, schiebt ihn beiseite.
Am Mittwoch (26.10.2011) entscheidet sich, ob sein Plan aufgeht. Dann will Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) im 700 Kilometer entfernten Berlin den nächsten Schritt der Bundeswehr-Reform bekannt geben.
Wirtschaftsfaktor für eine strukturschwache Region
Die Struktur der deutschen Streitkräfte wird derzeit grundlegend umgebaut, hin zu einer Berufs- und Freiwilligenarmee für internationale Einsätze, weg von der Wehrpflichtarmee. Die Zahl der Soldaten soll dabei von 220.000 auf mindestens 185.000 schrumpfen, vielleicht mehr. Unzählige der 400 Militärstandorte zwischen Flensburg im Norden und dem Bodensee im Süden werden dann nicht mehr gebraucht. Ob die Oberschwabenkaserne als Ausbildungsort für junge Luftwaffe-Rekruten noch ins verteidigungspolitische Konzept passt, ist unklar.
Für Peter Rainer dagegen ist sie unverzichtbar. "Diese Kaserne ist mit Abstand unser größter Arbeitgeber", sagt der gelernte Verwaltungs-Fachmann und beschwört die Kaufkraft, die von den derzeit rund 1000 Soldaten, zivilen Angestellten und Angehörigen in den umliegenden Gemeinden ausgeht. "Wir gehen davon aus, dass in etwa zehn Millionen Euro pro Jahr mit der Kaserne umgesetzt werden“. Einzelhändler und Handwerksbetriebe – manche erwirtschaften zwischen zehn und siebzig Prozent ihres Umsatzes mit Aufträgen der Militärs. In der Metzgerei von Eva Igel sind sowohl die Kaserne wie auch viele Soldaten Stammkunden. "Ich denke, das wäre ein großer Einbruch bei uns", sagt Igel. Sie schließe nicht aus, dass sie ihren Personalstamm von derzeit 18 Beschäftigten nach einer Schließung nicht halten könne.
Handwerksmeister Rainer Kern hat gerade an einem Hörsaal der Kaserne neue Rollläden angebracht. Auch für ihn droht ein verlässlicher Auftraggeber wegzufallen. "Es stehen sehr viele Gebäude innerhalb der Kaserne, die gewartet und saniert werden müssen", darauf konnte Handwerker Kern sich bislang verlassen. Seit 2004 wurden Teile der Kaserne grundlegend saniert. Das bescherte Dutzenden lokalen Handwerkern über Jahre gefüllte Auftragsbücher.
Würde die in Spitzenzeiten mit rund 800 Soldaten vollbesetzte Kaserne schließen, beträfe das alle Lebensbereiche der Gemeinde. Kindergärten und Schulen wären nach dem Wegzug vieler Soldatenfamilien plötzlich überdimensioniert, ebenso die Kläranlagen. Der ohnehin schon große Leerstand bei Wohn- und Geschäftsgebäuden würde sich noch verschärfen. Die bereits große Abwanderung junger Menschen aus der ländlichen Region würde wohl noch an Tempo zuzunehmen, nimmt Bürgermeister Rainer an. "Insgesamt wäre es für uns ein sehr großer Verlust, wirtschaftlich aber auch von der Struktur und der Identität unserer Gemeinde."
Ein möglicher Abzug der Bundeswehr sei eine Katastrophe, sagen Bürger wie der frühere Soldat Roland Richter, weil "hier keine Anschlussverwendung für die Kaserne möglich ist". Die Stadt, malerisch unweit des Flusses Donau gelegen, ist zwei Stunden vom nächsten Personen-Flughafen und knapp eine Stunde von der nächsten Autobahnanbindung entfernt. Wer soll hier investieren, fragt Richter laut und gibt mit einem Kopfschütteln selbst die Antwort.
Soldaten-Leben im Ungewissen
Besonders schwer träfe eine Schließung der Kaserne aber die rund 300 Soldaten und zivilen Angestellten der Kaserne, die in Hochzeiten bis zu 500 neue Luftwaffenrekruten ausgebildet und versorgt haben. Zuletzt sanken die Ausbildungszahlen dramatisch, seit am 1.Juli die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. "Man lebt jetzt im Ungewissen", sagt der 34-jährige Hauptfeldwebel Marco Lössl. Vor vier Jahren ist der gebürtige Franke in die Gemeinde gezogen, hat sich mit seiner Frau und den zwei Kindern ein Haus gekauft. Familie Lössl ist im Kindergarten, in der Schule und in Vereinen aktiv, hat in Hohentengen ihre Wahlheimat gefunden. "Ich wohne jetzt seit vier Jahren hier und fühle mich, als wäre ich 20 Jahre hier", sagt Lössl.
Eine Schließung der Kaserne wäre für ihn ein Schlag. "Wenn ich in der Nähe in der Oberschwabenkaserne meinen Beruf nicht mehr ausüben kann, muss ich natürlich schauen, ob ich meine Immobilie verkaufe", sagt Lössl und erinnert sich, dass er schon einmal nach einer Standortschließung in Bayreuth umziehen musste. Eine Wiederholung will er nicht.
Bürgermeister Peter Rainer kämpft, um genau das zu verhindern. Und so wird er nicht müde, die Vorteile, die für einen Fortbestand der Kaserne sprechen, in Gesprächen mit Entscheidungsträgern zu betonen. So habe kaum eine andere Kaserne eine direkte Anbindung an einen Kleinflughafen, an dem problemlos Fallschirmspringer-Übungen durchgeführt werden könnten.
Kaum eine andere Kaserne besitze so moderne Infrastruktur und habe zudem noch viele verbleibende Freiflächen für Erweiterungen. "Das Kasernengelände ist eigentlich auch für andere Teile der Bundeswehr hervorragend geeignet", erläutert der Bürgermeister seinen Plan B, falls wie angedroht die vier deutschlandweit verteilten Ausbildungsstandorte der Luftwaffe zu einem Standort fusioniert werden. Und falls dann die Oberschwabenkaserne das Nachsehen haben sollte.
"Nirgends wird die Bundeswehr so hofiert wie hier"
Ein Aus der Kaserne, das mag sich Franz Ott, Vorgänger von Peter Rainer im Amt des Bürgermeisters erst gar nicht ausmalen. Schließlich gebe es seit Gründung der Kaserne 1957 durchweg eine sehr enge Verbindung zwischen Soldaten und Bevölkerung.
"Es würde ein Stück unserer Dorfgemeinschaft wegbrechen", sagt Ott und erzählt, dass es im Laufe eines Jahres rund 50 Veranstaltungen gibt, an denen Soldaten und Bevölkerung gemeinsam teilnehmen. Das Highlight des Jahres, das traditionelle Oktoberfest in der Oberschwabenkaserne, zieht jedes Jahr bis zu 2000 Gäste auf das 28 Hektar große Kasernengelände. Selbst der Neujahrsempfang der beiden Kasernen-Gemeinden Hohentengen und Mengen findet dort statt. Die Politik sei gut beraten, Standorte dort zu schließen, wo sie weniger integriert seien als hier, sagen denn auch die meisten am Ort.
Kritik an Lokalpolitik
Nur Gemeinderat Rudolf Fischer (Freie Wähler) sagt etwas anderes. Die Lokalpolitik habe es versäumt, nach vorne zu schauen und neue Ideen und Alternativen zur Abhängigkeit von der Kaserne zu entwickeln, sagt Fischer. "In der Kaserne wird nichts produziert, zumindest nichts Sinnvolles produziert", provoziert er den Widerstand seiner Mitbürger. Es werde ausgebildet und damit hänge man an den Geldtöpfen, die vom Bund ausgehen. "Ich denke, dass andere Projekte vielleicht eher auf eigenen Füßen stehen könnten, sei es der touristische Bereich, der Menschen in die Gegend locken könnte und den Leuten vor Ort neue Erwerbsmöglichkeiten bieten könnte."
Dass Tourismus und militärische Tradition bestens zusammenpassen, das beweisen die Mitglieder der Mengener Bürgerwache. Der Brauchtumsverein hält durch Kostüme und Schwarzpulver-Gewehre die 750-jährige Militärtradition in den beiden Kasernenorten wach. Auf die Bundeswehr verzichten, das wollen auch die Mitglieder der Bürgerwehr nicht. "Nirgends wird die Bundeswehr so hofiert wie hier", sagt denn auch Georg Bacher. Der Metallbau-Handwerker ist in seiner Freizeit Hauptmann der Bürgerwache Mengen.
Selbst für den Fall, dass die Bundeswehr abzieht, verspricht Georg Bacher, die militärischen Traditionen am Ort weiter zu pflegen. Für den Hohentengener Bürgermeister Peter Rainer ist dies allerdings nur ein schwacher Trost. Denn alle Zukunftsszenarien, die er für seinen Ort durchspielt, hat er mit der Kaserne konzipiert. Trotzdem ist er irgendwie froh, dass das lange Warten auf eine Entscheidung für oder gegen die Kaserne bald ein Ende hat. Danach wird er in seinem Büro einen neuen Aktenordner anlegen. Welche Aufschrift dieser neue Ordner tragen, das vermag er heute allerdings noch nicht zu sagen.
Autor: Richard A. Fuchs
Redaktion: Hartmut Lüning