Schuldspruch nach Kopfschuss
4. Januar 2017Hebron im von Israel besetzten Westjordanland im März 2016: Ein 21-jähriger Palästinenser greift zusammen mit einem Komplizen einen israelischen Soldaten an, verletzt diesen leicht mit einem Messer. Schüsse fallen. Der Komplize ist tot, der 21-Jährige liegt blutend auf der Straße, regt sich kaum. Elf Minuten nach dem Angriff kommt Elor Asaria an den Tatort. Der damals 18-jährige Israeli leistet als Militärsanitäter seinen Wehrdienst. Anstatt dem Verletzten zu helfen, tötet Asaria den inzwischen wehrlosen Palästinenser - aus der Nähe mit einem Schuss in den Kopf. Ein Mitarbeiter der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem nimmt die Szene mit seiner Handykamera auf.
Schuldig wegen Totschlags
Der Fall und der Prozess gegen Asaria haben ganz Israel bewegt, wie kaum ein anderes Thema im vergangenen halben Jahr. Das Land ist tief gespalten. Für die einen ist Elor Asaria ein Mörder, für die anderen ein Held. Jetzt hat ein Militärgericht in Tel Aviv den inzwischen 19-jährigen Soldaten wegen Totschlags schuldig gesprochen worden. Elor Asaria droht eine bis zu 20-jährige Haftstrafe. Elor Asaria erklärte während des Prozesses, er habe befürchtete, der Palästinenser könne unter seiner Jacke einen Sprengstoffgürtel tragen und ihn zur Explosion bringen.
Doch die Beweislast gegen ihn war erdrückend: Das Video zeigt, wie der Angreifer bewegungslos am Boden lag. Asaria habe laut Zeugen zu seinen Kameraden gesagt, dass der Terrorist es verdiene, zu sterben. "Es gibt keine Berechtigung für die Behauptung, dass es Selbstverteidigung war", so die Vorsitzende Richterin Maja Heller. Asaria habe deutlich gegen das israelische Gesetz verstoßen, nach dem tödliche Gewalt nicht angewendet werden darf, sobald von dem Angreifer keine unmittelbare Gewalt mehr ausgeht Richterin Heller bezeichnete Asarias Aussage zudem als "sich immer wieder verändernd und ausweichend".
Der Fall erregte auch deshalb so große Aufmerksamkeit in Israel, weil er sich inmitten einer Welle palästinensischer Anschläge ereignete. Besonders im rechten Spektrum hat Elor Asaria inzwischen viele Anhänger, die auch zahlreich am Tag des Urteils vor dem Armeehauptquartier demonstrierten, in dem der Prozess stattfand. "Das israelische Volk lässt einen Soldaten auf dem Schlachtfeld nicht im Stich", war auf ihren Plakaten zu lesen und "Ein Soldat auf dem Schlachtfeld kann kein Mörder sein". Sie empfinden das Urteil und den ganzen Prozess als ungerecht. Aber nicht nur Rechtsgerichtete, im Land befürchten, dass junge Soldaten jetzt - zusätzlich zu der ohnehin schon großen Belastung während ihres Wehrdienstes - Angst vor Gefängnisstrafen haben müssen. Alle jungen Israelis müssen ab dem 18. Lebensjahr zum Militär - ohne die Möglichkeit den Dienst an der Waffe zu verweigern.
Forderungen nach klaren Regeln
Das ethische Dilemma: Ab wann ist es erlaubt, einen Angreifer zu töten? Was gilt als Selbstverteidigung oder Schutz der Zivilbevölkerung - und wann ist die rote Linie überschritten? Über diese Fragen wird seit Monaten in Israel viel diskutiert. Es gibt Forderungen, dass die Armeeführung die Verhaltensregeln klarer definieren soll. Zudem müsse besser überprüft werden, welche Soldaten psychisch und charakterlich für schwierige Einsätze geeignet sind.
Der Fall sorgte auch für Verwerfungen in der israelischen Regierung: Der damalige Verteidigungsminister Mosche Jaalon hatte nach der Tat versichert, der Vorfall werde "mit aller Härte" verfolgt, während Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Elor Asaria seine Unterstützung versprochen hatte. Im Streit um das richtige Vorgehen trat Jaalon vom Amt des Verteidigungsministers zurück. Später sprach allerdings auch Netanjahu von einem Verstoß gegen die "Werte" der israelischen Armee.
Seit Mai ist der ultra-rechte Politiker Avigdor Liebermann Verteidigungsminister. Er äußerte sich nach dem Richterspruch überraschend versöhnlich. Liebermann sprach zwar von einem "harten Urteil", bat aber alle, auch "jene, die wie ich das Urteil weniger gut finden," es dennoch zu respektieren. "Wir müssen unsere Armee und ihren obersten Befehlshaber unterstützen. Jenseits der politischen Diskussionen müssen wir die Armee beschützen und sie aus dem politischen Streit heraushalten," sagte Liebermann im israelischen Fernsehen.
"Ein Sieg für den Rechtsstaat"
Die Menschenrechtsorganisation B’Tselem, durch die der Fall ja erst bekannt wurde, äußert sich weiterhin kritisch: "Nur weil ein einziger Soldat heute verurteilt wurde, ist das noch lange kein Freispruch für das militärische Rechtssystem in Israel. Immer wieder werden Fälle, in denen Palästinenser von Sicherheitsleuten getötet oder verletzt werden, schön geredet, und niemand verantwortlich gemacht."
Positiv sieht der Rechtsexperte Amichai Cohen vom liberalen "Israel Democracy Institute" das Urteil. Es sei ein Sieg für den israelischen Rechtsstaat. Die seltenen Fälle, in denen Soldaten verurteilt würden, verursachten immer öffentliche Kontroversen - nicht nur in Israel, so Cohen. Denn ein Soldat töte nicht aus eigenem Antrieb, sondern stehe im Dienst seines Landes. Besonders kontrovers sei es dann, wenn das Opfer nicht ein unschuldiger Zivilist, sondern ein Angreifer ist, wie in dem Fall Asaria. "Das war ein Test für unser Rechtssystem, und ich bin stolz darauf, denn es hat sich bewiesen."
Netanjahu und andere Politiker fordern Begnadigung
Weil junge Israelis keine andere Wahl haben, als Wehrdienst zu leisten, mehren sich die Stimmen, die sich für Milde im Fall Elor Asaria aussprechen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schrieb nach der Urteilsverkündung auf seiner Facebook-Seite: "Ich unterstütze eine Begnadigung von Elor Asaria." Auch rechte israelische Politiker - und mit der Abgeordneten Shelly Yachimovich auch eine Stimme von mitte-links - plädieren für eine Begnadigung des 19-Jährigen.