Empörung über Friedenspreis an Adonis
3. September 2015Der Künstler bleibt sich treu. "Er verlor den Faden der Dinge", schreibt der syrische Dichter Adonis in seinem Band Die Gesänge Mihyars des Damaszeners. "Der Stern seines Empfindens erlosch / Und er stolperte nicht."
Literarisch ist Ali Ahmad Said, wie Adonis mit bürgerlichem Namen heißt, nie gestolpert. Über Jahrzehnte gestaltete er die dichterische Avantgarde nicht nur Syriens, sondern des gesamten arabischen Raums mit. Auf seine Weise formulierte er die tiefe politische und kulturelle Unruhe, die die Region seit rund 200 Jahrhundert Jahren, seit der Begegnung mit dem europäischen Kolonialismus erfasst hat. Diese Nervosität hat er in seinen Gedichten immer wieder verarbeitet. "Die liebenden Bäume treten hinaus ein Zweig schüttelt mich das Wasser bricht hervor die Zeit des alten Menschen endet ich beginne Wendekreise sind mein Antlitz und im Licht: Revolution."
Durch seine Zeilen wurde Adonis zu jenem Typ des modernen arabischen Intellektuellen, den man im Westen so sehr liebt. Aus Sicht der Europäer verkörpert er die unausgesprochene Hoffnung, die Region möge sich eines Tages doch noch von den Vorgaben des Glaubens verabschieden und sich dem öffnen, was der Westen als seinen tiefsten Kern beschreibt: der Hingabe an die Vernunft.
Lange Zeit konnte man annehmen, Adonis verkörpere mit der literarischen zugleich auch die politische Moderne. Darum hat er in Europa zahlreiche Ehrungen in Empfang genommen. Auch in Deutschland ist er vielfach ausgezeichnet worden: 2001 erhielt er die Goethe-Medaille, 2013 den Petrarca-Preis. 2011 nahm er den bedeutenden Goethepreis der Stadt Frankfurt entgegen.
Vorwurf mangelnden politischen Engagements
Doch schon die Frankfurter Auszeichnung löste neben Freude auch vielfaches Unbehagen aus. Kritiker wandten ein, es werde ein Dichter geehrt, dessen Zeit zumindest in politischer Hinsicht überraschend schnell abgelaufen schien, der offenbar nicht mehr mithielt mit den Ereignissen in seinem Geburtsland Syrien. Mit gutem Grund konnte man sich fragen, ob Adonis den Aufstand seiner Landsleute gegen das Regime Baschar al-Assads hinreichend verstanden hatte. Der Präsident sei fähig zu Reformen, äußerte er in einem Interview, als der schon Tausende Menschen hatte töten lassen. Das Mindeste, was Assad tun könne, sei, zurückzutreten, äußerte er im gleichen Interview. Schlau wurde niemand daraus. Hatte Adonis, wie sein Geschöpf Miyhar, den Faden der Dinge verloren? War der Stern zumindest seines politischen Empfindens erloschen?
Diese Vermutung konnte Adonis in den folgenden Jahren nicht widerlegen. Im Gegenteil: Er trat mit Äußerungen an die Öffentlichkeit, durch die er sich für viele seiner Landsleute endgültig diskreditierte. Er könne keine Revolution unterstützen, die in den Moscheen ihren Ausgang nehme, hatte er kurz nach Ausbruch der syrischen Revolution erklärt – in Anspielung auf den Umstand, dass die Syrer sich, in Ermangelung anderer Treffpunkte, zunächst in Gotteshäusern organisiert hatten. Und vor kurzem erklärte er in der libanesischen Tageszeitung "Al Safir", er verstehe nicht, dass man die Syrer immer noch als "Volk der Revolution" bezeichne – wo doch ein Drittel dieses Volkes das Land verlassen habe.
"Schwarzer Tag" für Syrien
Dass Adonis angesichts solcher Äußerungen nun mit dem Erich-Maria-Remarque-Preis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet werden soll, hat bei vielen - nicht nur arabischen - Intellektuellen erheblichen Unmut ausgelöst. Für seine Landsleute sei das ein "schwarzer Tag" sagt der syrische DW-Redakteur Ahmad Hissou. Bis jetzt, nach fast fünf Jahren Krieg, habe sich Adonis niemals solidarisch mit seinen Landsleuten gezeigt.
Dass der seit Jahrzehnten in Paris lebende Dichter die vor den Bomben des Assad-Regimes und den Messern des "Islamischen Staates" (IS) fliehenden Syrer in "Al Safir" auch noch verhöhne, mache ihn fassungslos, so Hissou. "In Zeiten, in denen Deutschland Hunderttausende syrische Flüchtlinge aufnimmt, zeichnet Osnabrück einen Dichter aus, der Assad kaum je kritisiert hat."
Auch der diesjährige Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, zeigt sich empört. Er habe es darum abgelehnt, am 20. November in Osnabrück die Laudatio auf Adonis zu halten. Zwar schätze er dessen lyrisches Werk, erklärte Kermani in einem Interview mit dem "Kölner Stadtanzeiger". Doch auch er kritisiert, dass Adonis gegenüber dem brutalen Vorgehen des Regimes in Damaskus gegen das eigene Volk nicht auf Distanz gehe.
Rechtfertigung der Jury
Die Stadt Osnabrück hat auf die Kritik inzwischen reagiert. Der Jury sei bewusst gewesen, dass die Verleihung eine kontroverse Diskussion entfachen könnte, teilte die Stadt am Mittwochabend mit. "Mit der Auszeichnung für Adonis ist aber auch beabsichtigt gewesen, intensiv über die Problematik in Syrien ins Gespräch zu kommen, über Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren, die Frage nach der Verantwortlichkeit und Einflüssen anderer Staaten zu stellen", hieß es in der Erklärung.
Jurymitglied Oberbürgermeister Wolfgang Griesert (CDU) sagte, es sei für die Entscheidung vor allem wichtig gewesen, "Adonis´ Eintreten für eine Trennung von Religion und Staat sowie die Gleichberechtigung der Frauen in der arabischen Welt zu würdigen und sein Engagement für eine aufgeklärte Gesellschaft auszuzeichnen." Dadurch weise der Lyriker über die aktuellen Konflikte hinaus auf eine grundsätzliche Fragestellung hin. Sein Werk erfülle damit in vielfacher Hinsicht die Intention des Friedenspreises.
Mehr als elf Millionen Syrer sind nach Angaben des UNHCR derzeit auf der Flucht. Etwa 250.000 Menschen fielen nach Angaben der international anerkannten "Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte" dem Krieg in Syrien zum Opfer. Die meisten von ihnen starben, der spektakulären Greueltaten des IS zum Trotz, durch das Regime Baschar al-Assads. "Dazu hätte Adonis sich äußern sollen", sagt DW-Redakteur Ahmad Hissou, "das wäre eines Friedenspreisträgers würdig."