Literatur nach der Arabellion
12. März 2015Deutsche Welle: Welche Bedeutung hat die Förderung deutscher Literatur für den arabischen Sprachraum?
Loay Mudhoon: Im gesamten arabischen Raum werden nur extrem wenige Bücher übersetzt. Schockierend ist auch, dass pro Jahr überhaupt nur 35.000 Bücher publiziert werden. Damit bleiben die arabischen Länder weit hinter den asiatischen zurück, auch hinter den lateinamerikanischen, wo immerhin 42.000 publiziert werden.
Von 2015-17 wird Litrix pro Jahr die Übersetzung von ungefähr dreißig Titeln aus dem Deutschen ins Arabische fördern: Belletristik, Jugend- und Sachbücher, die von einer deutschen und arabischen Jury in einem gemeinsamen Verfahren ausgewählt werden. Ich finde das ungeheuer wichtig, auch durch die Art und Weise, in der das Angebot an arabische Verlage zustande kommt. Gerade für kleine, engagierte Verlage ist eine solche Förderung wichtig. Damit einhergehend besteht so die Möglichkeit, über Literatur den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen zu stärken.
Der arabische Sprachraum umfasst 350 Millionen Menschen. Aber wenn man die Analphabeten und die marginalisierten Gebiete außerhalb der Metropolen herausrechnet, bleiben nicht einmal 100 Millionen Menschen übrig, die potentiell für Literatur erreichbar wären. Und der Vertrieb zwischen den verschiedenen arabischen Ländern ist besonders schwierig, weil es so hohe Zollschranken gibt. Außerdem existiert kein einheitliches Bestellsystem. Das macht die Buchbeschaffung oft sehr schwierig.
Wie wird die deutschsprachige Literatur bisher im arabischen Sprachraum wahrgenommen?
Kersten Knipp: An den Übersetzungen gemessen, wenig. Nach Ägypten wurden 2013 zwanzig Lizenzen für deutschsprachige Bücher verkauft. Ebenso viele gingen in den Libanon, in den Irak keine. Das Jahr davor waren es zwei Lizenzen. Unklar ist allerdings, bei wie vielen es sich um belletristische Titel handelt. Anders sieht es beim literarischen Austausch vor Ort aus: Dort werden deutsche oder deutsch-arabische Literaturveranstaltungen vergleichsweise gut besucht. Aber auch das Deutsche hat natürlich viele Konkurrentinnen – die größte ist die Weltsprache Englisch, die Sprache, in der sich auch der American Way of Life artikuliert. Ein für viele – trotz anderslautender Bekundungen aus frommen, allzu-frommen Kreisen – immer noch beliebtes Lebensmodell.
Welche Rolle spielt die moderne Literatur in den Krisenstaaten Irak und Syrien?
LM: Die Literatur hat in der Vorbereitung der Arabellion in vielen arabischen Ländern, vor allem in Ägypten, aber auch in Syrien und Libyen eine sehr wichtige Rolle gespielt. Viele Literaten, Künstler und andere Kulturschaffende haben das gesellschaftliche Klima mitgeschaffen, das zu den politischen Umbrüchen in der arabischen Welt führte. Sie waren Teil der Arabellion. Vier Jahre danach macht der arabische Raum eine sehr schmerzhafte Erfahrung. In vielen Ländern haben wir statt eines demokratischen Aufschwungs Zerfallserscheinungen. In den Ländern, die vom Staatszerfall bedroht sind, Libyen, Syrien und dem Irak, spielt die Literatur aktuell keine große Rolle. Die Menschen sind mit ihren Überlebensnöten beschäftigt.
Früher sagte man im Arabischen: „Beirut schreibt, Amman druckt, und Bagdad liest.“ Die meisten Literaten und Kulturschaffenden lebten bis Mitte der 1980er-Jahre wegen der relativen Freiheit in Beirut. Gedruckt wurden die meisten Bücher in Jordanien, aufgrund der guten Qualität und der günstigen Kosten. Die meisten Leser aber gab es im Irak. Bis Mitte der Achtziger, also bis vor dem Krieg, war es das modernste und gebildetste Land im Mittleren Osten. Die Alphabetisierung war fast vollständig. Die Frauen waren emanzipierter als im heutigen Tunesien. Ehe Saddam Hussein seine wahnsinnigen Kriege begann und das Land ins Elend führte, war der Irak der avantgardistischste Staat im Mittleren Osten.
Gibt es aktuell überhaupt noch literarische Stimmen, die die vielschichtigen kulturellen Wurzeln repräsentieren?
KK: Es ist immer schwierig, von kultureller Identität zu sprechen. Was sollte das in diesem Fall sein? Viele Autoren, zumindest die, die international gehandelt werden, haben ein eher indifferentes Verhältnis zu Glaubensfragen. Wenn sie sich mit Religion befassen, dann eher unter dem Aspekt der Schwierigkeiten, die sie bereiten, oder auch der Art und Weise, in der sie ausgebeutet und politisch-terroristisch missbraucht werden. So erzählt der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad zum Beispiel die Geschichte eines jungen Mannes, der sich von Al-Kaida als Terrorist anwerben lässt. Ein bedrückendes Porträt der Verführbarkeit. Und die Irakerin Lutfiya al-Dulaimi schildert Bagdad aus weiblicher Perspektive – die sich als keineswegs angenehm entpuppt.
Gibt es eine länderübergreifende arabische Autorenszene, eine die sich vielleicht auch im Exil wiederfindet?
LM: Es gibt so etwas wie eine gesamtarabische Elite. Zu ihr gehören zum Beispiel Schriftsteller und Intellektuelle wie der libanesische Schriftsteller Elias Khoury – ein Dauerkandidat für den Nobelpreis. Oder der in Paris lebende Dichter Adonis oder der marokkanische, auf Französisch schreibende Tahar Ben Jelloun, die beide nicht nur literarisch, sondern auch publizistisch, philosophisch oder politisch tätig sind.
Wie sieht die Rezeption arabischer Literatur in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum aus?
KK: Vergleichsweise bescheiden. Nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wurden im Jahr 2013 nur 36 Titel aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. Zum Vergleich: Aus dem Englischen wurden 6.861 Titel übertragen. Arabisch gehört zwar immer noch zu den zwanzig am stärksten ins Deutsche übertragenen Sprachen, aber das Bild relativiert sich wieder, wenn man bedenkt, aus wie vielen Staaten die arabische Welt besteht – weit über zwanzig. Zur Verdeutlichung: Aus dem gesamten arabischen Sprachraum werden weniger Bücher übersetzt als jeweils aus dem Finnischen, Dänischen, Japanischen. Daran kann man sehen, wie wenig vertraut uns die Sprache ist.
Der erste arabische Nobelpreis für Magib Machfus 1988 liegt lange zurück. Gab es in jüngerer Zeit einen arabischen Bestseller auf Deutsch?
KK: Relative Bestseller hat es gegeben: Khalid al-Chamis hat mit „Im Taxi“ einen Erfolgsroman geschrieben und Alaa al-Aswani mit dem „Jakubijan-Bau“. Beide setzen sehr stark auf Humor – und umreißen auf diese Weise die Probleme der ägyptischen Gesellschaft kurz vor dem Revolutionsjahr 2011.
LM: Der bekannteste in Deutschland lebende Autor ist natürlich der in Damaskus geborene Rafik Schami, den ich nicht als Exilautor bezeichnen möchte – er ist deutschsprachig. Ein Geschichtenerzähler, der die literarische Begabung hat, aus dem alten Geist des Orients etwas Neues zu kreieren.
Loay Mudhoon ist Redaktionsleiter von "Qantara.de - Dialog mit der islamischen Welt" und Mitglied der Jury von Litrix.de, Kersten Knipp freier Journalist und Kenner des arabischen Sprach- und Kulturraums.