Erdogan und das Grubenunglück
14. Mai 2014Noch während der Suche nach Überlebenden und Todesopfern des Grubenunglücks in Soma machten die Kritiker des Ministerpräsidenten am Mittwoch mobil. Oppositionsparteien und Gewerkschaften riefen in einem halben Dutzend Städten in der ganzen Türkei zu Kundgebungen gegen die Regierung auf. Schüler und Studenten in mehreren Landesteilen traten in einen Streik. Das Wort vom "Massaker" an den Bergleuten in Soma machte die Runde - der linke Gewerkschaftsbund DISK hatte das Schlagwort in die Diskussion gebracht.
Erdogans Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus und schickte Energieminister Taner Yildiz nach Soma, um die Rettungsarbeiten zu koordinieren. Doch der Minister konnte nicht viel mehr tun, als ständig steigende Opferzahlen zu verkünden. "Die Zeit arbeitet gegen uns", sagte Yildiz am späten Mittwochabend. Auch Erdogan selbst reiste nach Soma. Er kündigte umfassende Ermittlungen an und versprach, "keine Nachlässigkeit" zu dulden.
Dutzende aufgebrachte Einwohner von Soma demonstrierten nahe dem Gebäude, in dem der Regierungschef seine Pressekonferenz hielt. Sie versetzten seinem Auto Fußtritte und forderten den Rücktritt der Regierung, wie die private Nachrichtenagentur Dogan berichtete. Erdogan wies jedoch jede Verantwortung der Regierung zurück: Derlei Arbeitsunfälle passierten "überall auf der Welt".
Antrag auf Untersuchung abgelehnt
Der Hauptvorwurf an die Regierung lautet, dass sie Kontrollen der Bergbaubetriebe im Zuge der Privatisierung von Staatsbetrieben in den vergangenen Jahren vernachlässigt habe. Zudem reiche die Zahl der staatlichen Kontrolleure in den Bergwerken nicht aus. Hinzu kommt, dass die Erdogan-Partei AKP erst vor zwei Wochen einen Antrag der Opposition auf Untersuchung von Sicherheitsmängeln in der Grube von Soma zurückwies. Seit September 2012 sind nach Angaben von Regierungsgegnern insgesamt 22 Menschen bei Bränden unter Tage in dem Kohlebergwerk ums Leben gekommen.
Nun muss sich Erdogans Regierung den Vorwurf anhören, durch eine einseitig arbeitgeberfreundliche Politik das Leben und die Gesundheit von vielen Arbeitern aufs Spiel gesetzt zu haben. Energieminister Yildiz hatte die Unglücks-Grube erst im vergangenen Jahr persönlich inspiziert und Investitionen in teure Sicherheitssysteme zugunsten der Beschäftigten gelobt - doch diese reichten nicht aus. "Im Grunde ist es doch so", schrieb der angesehene Kolumnist Murat Yetkin in der Online-Ausgabe der Zeitung "Radikal" am Mittwoch (14.05.2014): "Die Regierung hat beim Bergwerk in Soma alle Warnungen in den Wind geschlagen, und die Arbeiter zahlen jetzt dafür."
Einige Kundgebungen erinnern an Gezi-Proteste
Die Gesamtzahl der Todesopfer werde am Ende bei 350 bis 400 Menschen liegen, sagte der Abgeordnete Hasan Ören von der Oppositionspartei CHP, der die Gegend um Soma im Parlament von Ankara vertritt. Damit ist die Katastrophe das schwerste Bergwerksunglück in der Geschichte der Türkei. 1992 starben in Zonguldak an der Schwarzmeerküste 263 Menschen.
In sozialen Medien wurde der Ruf nach dem Rücktritt der zuständigen Minister der Regierung Erdogan laut. Einige der spontanen Kundgebungen erinnerten an die regierungsfeindlichen Gezi-Protesten des vergangenen Jahres.
Im Istanbuler Geschäftsviertel Levent protestierten Studenten und andere Demonstranten mit schwarzen Fahnen vor der Vertretung des Bergwerksbetreibers Soma-Holding. "Mörder", sprühten sie in blutroter Farbe an die Hauswand. Von den Vertretern der Firma war nichts zu sehen. In Universitäten in Ankara und anderswo versammelten sich Studenten zu Protestkundgebungen. Die Oppositionspartei CHP forderte eine Sondersitzung des Parlaments. Mehrere Gewerkschaftsverbände riefen für diesen Donnerstag zu landesweiten Streiks und Protesten auf.
"Angst vor der Bevölkerung"
Die Katastrophe von Soma hat nach Ansicht von Kritikern die extrem arbeitgeberfreundliche Seite der Erdogan-Regierung an den Tag gebracht, die häufig von wirtschaftlichen Erfolgen überdeckt wird. Der ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende Cetin Uygur sprach im Gewerkschafts-Internetportal "Sendika.org" vom "schlimmsten Verbrechen an Arbeitern in der Geschichte des Landes". Es sei kein Wunder, dass die Regierung in Soma so viele Sicherheitskräfte in Alarmbereitschaft versetzt habe: "Sie hat Angst vor der Reaktion der Bevölkerung."
Für die meisten steht allerdings die Trauer um die Opfer im Vordergrund. "Heute ist der Tag des Schmerzes, es ist nicht die Zeit, die Regierung zu attackieren", schrieb die Kolumnistin Asli Aydintasbas auf Twitter. Doch damit wurde bereits begonnen.