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Politik

Erdogans Angriff auf die Anwaltskammern

Daniel Derya Bellut | Hilal Köylü
8. Juli 2020

Ein neues Gesetz in der Türkei soll die Gründung von alternativen Anwaltskammern erleichtern. Präsident Erdogan spricht von einer Justizreform. Anwälte befürchten, dass sie auf Linie gebracht werden sollen.

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Anwälte bei Sitzstreik in Ankara
Anwälte bei Sitzstreik in Ankara: "Verteidigung kann man nicht aufhalten"Bild: DW/H. Köylü

Der türkische Präsident versucht, seine Macht im Land unaufhörlich auszuweiten - die meisten Medienunternehmen hat Recep Tayyip Erdogan durch Zensur und wirtschaftliche Anreize auf seine Linie gebracht. Mit der Einführung des Präsidialsystems im Jahr 2018 hat er sich als Staatsoberhaupt bereits großzügige Machtbefugnisse gesichert. Kritiker reden von einem "Ein-Mann-Regime".

Doch es gibt noch ein paar wenige Bastionen der Unabhängigkeit: Die 80 Anwaltskammern in der Türkei, die auf die jeweiligen Provinzen des Landes verteilt sind, gelten als vergleichsweise neutrale Institutionen. Sie sind laut geltendem Gesetz verpflichtet, sich in den Dienst des Mandanten zu stellen, um dessen Rechte zu verteidigen. Das Ganze nach den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die Kammern stellen zudem von der Politik unabhängige Anwälte, die Angeklagte gegen den Staat verteidigen sollen.

Auch nach 18 Jahren Erdogan an der Regierungsspitze, haben sich Rechtsanwälte ihre Position bewahrt, keine Handlanger der Politik zu sein, sondern Verteidiger der türkischen Gerichtsbarkeit. Daher kam es in der jüngsten Vergangenheit häufig zu Meinungsverschiedenheiten mit der türkischen Regierung. Mit diesem unbekümmerten Auftreten könnte jedoch schon bald Schluss sein. Denn die Regierung drängt auf die sogenannten "Multi-Anwaltskammern".

Erdogan: Dezentralisierung für mehr "Demokratie"

Diese Neuerung sieht ein Gesetzentwurf vor, der am Montag von der parlamentarischen Justizkommission verabschiedet wurde. Er soll die Spaltung von Anwaltskammern erleichtern. Künftig sollen die Mitglieder von Kammern, in der mehr als 5000 Anwälte organisiert sind, dazu befugt sein, eine alternative Kammer zu gründen. Voraussetzung: Es kommen Unterschriften von 2000 Anwälten zusammen, die das wollen.

Recep Tayyip Erdogan
Präsident Erdogan: "Demokratischer und vielfältiger"Bild: Getty Images/AFP/A. Altan

Die Gesetzesänderung würde die politisch umkämpften Städte Istanbul, Ankara und Izmir betreffen. Auch die Mittelmeermetropole Antalya, die auf knapp 5000 Mitglieder kommt, könnte von der neuen Regelung betroffen sein. In den drei größten Städten der Türkei sind derzeit zwischen 10.000 und 50.000 Anwälte in einer Kammer organisiert- theoretisch könnten in jeder dieser Städte mindestens fünf neue Kammern gegründet werden.

Das Gesetz soll nach Angaben des türkischen Präsidenten die Rechtsprechung "demokratischer und vielfältiger machen". Die jetzige Struktur sei nicht verfassungsgemäß, lautet die Einschätzung des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Bülent Turan von der Regierungspartei AKP. Die Gründung von mehr als einer Anwaltskammer in einer Stadt sei mit Hinblick auf das Organisationsrecht und den Freiheitsrechten unabdingbar.

Türkische Anwälte sehen eine Finte

Doch für viele türkische Anwälte und Oppositionelle sind die sich anbahnenden "Multi-Anwaltskammern" nichts weiter als ein Versuch, die Anwaltschaft auf AKP-Linie zu bringen. Es ginge bei der Gesetzesinitiative vor allem darum, in Ankara, Istanbul und Izmir alternative Anwaltskammern zu gründen, die dann mit regierungsnahen Personen besetzt werden können, sagt Anwalt und Geschäftsführer der Oppositionszeitung "Cumhuriyet", Akin Atalay. "Später werden sie mithilfe von ermäßigten Tarifen, Darlehen und ähnlichen Begünstigungen, Anwälte in die regierungsnahen Kammern locken", fürchtet Atalay: "Sie werden versuchen, Anwälte zu kaufen."

Atalay ist um die Unabhängigkeit der Justiz besorgt. Er verweist darauf, dass bereits Staatsanwälte und Richter von der Regierung abhängig seien. Sie müssten fürchten, entlassen zu werden, wenn sie nicht regierungskonforme Entscheidungen stützen. "Wenn nun auch noch die Rechtsanwälte von der Regierung abhängig sind, dann wird es nicht mehr möglich sein, faire Gerichte vorzufinden; vor allem wenn Bürger mit dem Staat im Streit stehen".

Doğan Erkan
Anwalt Erkan: "Politische Überzeugung im Vordergrund"Bild: DW/G. Solaker

Doğan Erkan - Anwalt und Mitglied der Anwaltskammer von Ankara - kritisiert, dass durch das neue Gesetz die politische Einstellung des Rechtsanwalts in den Vordergrund gerückt werde. "Anwälte haben normalerweise nur Roben an - sie sind uniform. Während der Anhörung weiß niemand, wem er nahesteht. Das neue System allerdings wird die politische Überzeugung der Anwaltskammer in den Vordergrund rücken". Ein Gericht dürfe aber die politische Gesinnung eines Anwalts nicht kennen, sonst könne er den Bürger nicht ausreichend verteidigen, sagt Erkan.

Anwälte leisten Widerstand

Tausende Anwälte wollen die umstrittene Gesetzesreform nicht hinnehmen. In 58 Anwaltskammern über die ganze Türkei verstreut, wurde protestiert. Sie sind vor allem darüber empört, dass die Justizkommission ihre Beratungen ganz ohne Beteiligung der Anwaltskammern durchführte. Die Kritik richtete sich auch gegen den Vorsitzenden der Dachorganisationen der türkischen Anwaltskammern (TBB), Metin Feyzioglu. Er würde sich Präsident Erdogan anbiedern und nicht ausreichend hinter den Anwälten stehen, so die Kritik.

Unter dem Motto "Verteidigung kann man nicht aufhalten" organisierten mehrere Anwaltskammern einen Marsch zum Parlament in Ankara. Als die Staatsgewalt die Protestaktion unterband, kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen den Juristen und der Polizei. Doch die Advokaten improvisierten: Spontan organisierten sie einen Sitzstreik in der Nähe des Parlaments. "Wir werden uns niemals dem Knüppel beugen, den das Regime unter dem Schreibtisch hervorgezogen hat", so der Präsident der Anwaltskammer Ankara, Erinc Sagkan. "Wir sind nicht gehorsam!"

Türkei Istanbul | Rechtsanwälte protestieren gegen den Plan der Regierung zur Reform der Anwaltskammern
Anwaltsprotest in Istanbul: "Nicht gehorsam"Bild: DW/S. Ocak

Die Polizei errichtete Barrikaden, um weitere Rechtsanwälte, Journalisten und Oppositionspolitiker daran zu hindern, sich den Demonstranten anzuschließen - die Beamten begründeten ihr rigoroses Vorgehen damit, dass die Protestler Corona-Richtlinien wie die Abstandsregeln verletzt hätten.

Das neue Gesetz muss dem Parlament zwar noch zur endgültigen Abstimmung vorgelegt werden - doch angesichts der klaren Stimmenmehrheit der Regierungskoalition stehen die Chancen für Erdogans Regierung gut. Auch die Einwände der Opposition blieben von der Justizkommission unbeachtet. Die größte Oppositionspartei CHP kündige daher an, das Gesetz im Falle des Inkrafttretens vor das türkische Verfassungsgericht zu bringen.