Erdogans Angst vor Stimmenverlust
10. Mai 2015Bisher ging es für die im Jahr 2001 gegründete AKP bei Parlamentswahlen immer nur nach oben. Nachdem ihr im Jahr 2002 rund 34 Prozent der Stimmen zur absoluten Mehrheit der Mandate im Parlament und damit zur Regierungsübernahme genügten, legte sie 2007 auf 46 Prozent und 2011 sogar auf fast 50 Prozent zu. Diesmal könnte es anders sein. Die Umfragen sehen die islamisch-konservative Partei zwar wieder einmal weit vor der Konkurrenz, die meisten Befragungen siedeln sie aber lediglich zwischen 40 und 45 Prozent an.
Auf den ersten Blick ist das für eine Partei, die seit mehr als zwölf Jahren an der Macht ist, ein stolzes Ergebnis. Doch in der AKP herrscht keinerlei Feierlaune. Denn ein Sieg allein reicht Erdogan nicht. Der 61-Jährige, der auch nach dem Wechsel ins höchste Staatsamt der entscheidende Mann in Partei und Regierung geblieben ist, will im neuen Parlament eine Mehrheit von mindestens 330 der 550 Abgeordneten zusammenbekommen. Anschließend will er per Verfassungsänderungen ein Präsidialsystem einführen - mit ihm selbst an der Spitze, versteht sich. Doch davon ist die AKP derzeit weit entfernt. Selbst mit ihrem Traumergebnis von 2011 erhielt sie nur 326 Mandate.
Erdogan stürzt sich wieder ins Getümmel
Zu dem in den Umfragen prognostizierten klaren Abwärtstrend der AKP kommt ein weiteres Problem für die Partei hinzu: Sollte die Kurdenpartei HDP den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde für den Parlamentseinzug schaffen, wäre möglicherweise sogar die absolute Mehrheit der AKP im Parlament in Gefahr. All das hat den Präsidenten dazu bewogen, sich wieder ins Getümmel des Wahlkampfs zu stürzen. Mehr als 30 Veranstaltungen will Erdogan bis zum Wahltag absolvieren. An diesem Sonntag wirbt er bei einem Besuch in Karlsruhe zudem um die Stimmen der türkischen Wähler in Deutschland.
Die Opposition sieht in Erdogans Verhalten einen klaren Verstoß gegen die von der Verfassung vorgegebenen Regeln für das Amt des Staatspräsidenten. Er soll sich aus der Tagespolitik heraushalten und darf auch kein Mitglied einer politischen Partei sein.
"Ich werde nicht außen vor bleiben"
Erdogan setzt sich jedoch über das Neutralitätsgebot hinweg. Der Präsident ist ein brillanter Wahlkämpfer und schiebt den AKP-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu mit seiner Präsenz zur Seite. Angesichts der Bedeutung der Juni-Wahl erwarte wohl niemand, "dass ich außen vor bleibe", sagte Erdogan am Freitag.
Damit breche Erdogan ganz offen die Verfassung, sagt der Journalist Yavuz Baydar im Gespräch mit der DW. Baydar erkennt bei Erdogan und der AKP seit Wochen "offensichtliche Zeichen der Panik". Die Regierungspartei verliere Wähler und habe bisher kein Gegenrezept gefunden. Dabei spiele unter anderem die Wirtschaftslage eine Rolle. In den vergangenen Monaten schwächte sich das Wachstum ab und die Arbeitslosigkeit stieg an.
Unbehagen über Erdogans Verhalten
Ob Erdogan den Trend stoppen kann, ist ungewiss. Selbst im Lager der AKP-Anhänger gebe es ein gewisses Unbehagen über Erdogans Missachtung der Regeln für das Präsidentenamt, sagt der Kolumnist Semih Idiz im Gespräch mit der DW. "Sie fragen sich, ob das ein Vorgeschmack auf das Präsidialsystem ist, wenn Erdogan machen kann, was er will." Möglicherweise wanderten konservative AKP-Wähler deshalb zur nationalistischen MHP ("Partei der Nationalistischen Bewegung") oder zu kleineren islamischen oder rechtsnationalen Parteien ab.
Nach einigen Wahlprognosen könnte sich die AKP nach der Wahl zu einer Koalition oder einer punktuellen Zusammenarbeit mit anderen Parteien im Parlament gezwungen sehen. Dies gilt vor allem für den Fall, dass die HDP in die Volksvertretung einzieht. Die Kurdenpartei unter zehn Prozent zu halten, ist deshalb zu einem wichtigen Wahlziel der AKP geworden: Erdogan hält auffällig viele Reden im kurdischen Ostanatolien.