Erler: "Widersprüchliche russische Politik"
29. Dezember 2015DW: Die Militäroperation in Syrien scheint für Moskau auch eine Annäherung an den Westen zu bedeuten. Glauben Sie, dass sich dieser Trend im neuen Jahr fortsetzen wird?
Erler: Ich hoffe es, weil wir in Deutschland ein starkes Interesse daran haben, dass es eine politische Lösung für das furchtbare Kriegsgeschehen in Syrien geben wird. Wir wissen, dass das der Grund für die Flüchtlingsbewegung ist. Nach 250.000 Toten und 12 Millionen Flüchtlingen wollen wir, dass dort endlich ein Friedensprozess durchgeführt wird - und es ist völlig klar, dass das ohne Russland nicht möglich ist.
Was sind die Ziele der russischen Außenpolitik?
Russland verfolgt unterschiedliche Ziele. Eines davon war es schon immer, weltpolitische Dinge auf gleicher Augenhöhe wie die Vereinigten Staaten zu regeln. Was Syrien angeht, ist das der russischen Führung gelungen. Beispiele dafür sind die Gespräche mit dem US-Präsidenten Barack Obama, die Auftritte vor der UN-Vollversammlung, die konkreten Beratungen in Wien und in New York. Sie zeigen, dass Russland dort angekommen ist, wo es gerne hin möchte. Gleichzeitig hat Russland Interesse daran, dass der Ukraine-Konflikt in den Windschatten gestellt wird. Man möchte, dass darüber nicht mehr so viel geredet wird.
Einerseits will Russland die Beziehungen zum Westen verbessern, andererseits sehen wir, dass die Staatspropaganda noch sehr stark anti-westlich ist. Wie passt das zusammen?
Da sehe ich bestimmte Entwicklungen. Auf der jüngsten großen Pressekonferenz hat Wladimir Putin die amerikanischen Vorschläge für eine UN-Resolution in Sachen Syrien gelobt und gesagt, man könnte diesen eigentlich zustimmen. Das ist ein Annäherungsprozess, der bemerkenswert ist. Andererseits wird der Konflikt mit der Türkei geradezu gepflegt. Das ist besorgniserregend. Insofern haben wir eine widersprüchliche Entwicklung der russischen Politik. Es geht nicht nur um konstruktive Lösungen von Konflikten, sondern zum Teil auch um eine Aufrechterhaltung von Konflikten, wie das mit der Türkei der Fall ist.
Ist Russland bereit, in der ukrainischen Frage flexibler zu werden?
Wir wissen nicht genau, was die politischen Ziele Russlands im Ukraine-Konflikt sind. Im Augenblick ist folgende Taktik von Russland erkennbar: "Wir sind eigentlich diejenigen, die bereit sind, das Minsker Programm zu erfüllen. Diejenigen, die ein Problem damit haben, sind die Ukrainer." Deswegen wird der Westen ständig aufgefordert, doch endlich dafür zu sorgen, dass die Ukraine ihre Aufgaben erledigen.
Dahinter steckt ein objektives Problem: Es ist für die ukrainische Führung nicht leicht, die nächsten anstehenden Punkte des Minsker Abkommens umzusetzen. Es gibt vier Punkte, die immer Schwierigkeiten bereiten: Die Dezentralisierung, die Verfassungsänderung, das Wahlgesetz und die Öffnungsklausel in der Verfassung. Moskau nutzt das taktisch aus, obwohl von der eigenen Seite aus zum Beispiel die Übergabe der Grenzkontrolle an die Ukraine fällig wäre.
Die europäischen Politiker erwähnen die Krim kaum noch. Spielt die Annexion der Krim überhaupt noch eine Rolle?
Wir konzentrieren uns auf die Beendigung der verlustreichen Kämpfe in der Ostukraine. Erst in einem anderen politischen Prozess wird dann auch das Thema Krim auf die Tagesordnung geholt. Wenn wir das jetzt vermischen würden, gäbe es weniger Chancen, überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen.
Der Westen hat die Maidan-Proteste in der Ukraine unterstützt. Jetzt verändert sich etwas: Ist der Vertrauenskredit aufgebraucht?
Nein, es ist immer noch so, dass wir in einem großen Umfang die Ukraine unterstützen: Nicht nur der Internationale Währungsfonds mit über 17 Milliarden US-Dollar, sondern auch Deutschland mit 700 Millionen Euro für das Jahr 2015. Ähnliche Pläne gibt es auch für das nächste Jahr. Aber das ist auch an bestimmte Erwartungen gebunden. Dabei geht es um den Reform- und Transformationsprozess. Wir glauben, dass ein künftiger starker Partner Ukraine nur möglich ist, wenn dieses Programm, was auch Teil des Assoziierungsabkommens mit der EU ist, ernsthaft angegangen wird.
Was erwarten Sie im neuen Jahr für die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland?
Wir haben nach wie vor ein angespanntes Verhältnis. Das hat etwas mit dem russischen Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine zu tun. Gleichzeitig konnten wir zusammen mit Frankreich, der Ukraine und Russland einen politischen Prozess anstoßen - den Minsk-Prozess. Da gibt es einen Fahrplan seit dem 12. Februar dieses Jahres, der entscheidend ist. Dadurch könnten zum Beispiel die Sanktionen gegen Russland beendet werden. Alles hängt davon ab, ob beide Seiten auch bereit sind, diesen Weg mitzugehen. Mit diesen offenen Fragen gehen wir in das neue Jahr.
Gernot Erler (SPD) ist Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Sonderbeauftragter der Bundesregierung für den OSZE-Vorsitz.
Das Interview führte Oxana Evdokimova.