Ein Hauch von Zeitenwende
26. Oktober 2021Es ist 13:28 Uhr an diesem Dienstag, als im Bundestag in Berlin die neue Wahlperiode so richtig beginnt: Mit einer Mehrheit von 576 Stimmen wird die SPD-Parlamentarierin Bärbel Bas, bisher eine der Gesundheitsexpertinnen ihrer Fraktion, zur neuen Präsidentin gewählt. Zum dritten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat somit eine Frau dieses hohe Amt inne, nominell das zweithöchste Staatsamt nach dem Bundespräsidenten.
Bas amtet hörbar durch, als sie nach ihrer Wahl auf dem Präsidentenstuhl Platz nimmt. Und sie versäumt nicht, es zu erwähnen: Noch nie habe eine Tochter ihrer Heimatstadt Duisburg ein so hohes Staatsamt inne gehabt. Bas wurde 1968 geboren und wuchs mit fünf Geschwistern im früheren Stahl- und Kohlerevier an der Ruhr auf, ehemals eine sozialdemokratische Hochburg.
Sichtlich bewegt und mit stockender Stimme erinnert sie an den vor einem Jahr verstorbenen Vize-Präsidenten des Bundestags, ihren Parteifreund Thomas Oppermann. Dann spricht sie von dem Respekt, der wieder einkehren müsse im Parlament. Und davon, dass sich der Bundestag in Zeiten einer immer weiter auseinander fallenden Gesellschaft öffnen müsse: "Lassen Sie uns viele Menschen ansprechen, lassen Sie uns auf die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zugehen, vor allem auf jene, die sich von der Politik seit Langem nicht mehr angesprochen fühlen", appelliert sie an ihre Abgeordnetenkollegen. Und fährt fort: "Ein vielfältiges, junges, frisch gewähltes Parlament kann leichter Brücken bauen."
So viele Abgeordnete wie nie
Mit der konstituierenden Sitzung kommt nicht nur eine neue, noch weitgehend unbekannte Präsidentin. Sie bringt auch den Abschied von vielen bekannten Gesichtern: Vieles ist schon auf den ersten Blick ungewöhnlich an dieser ersten Sitzung des neuen Bundestages nach der Wahl. Der Saal ist voll, anders als bei vielen Sitzungen seit dem Ausbruch der Pandemie vor gut anderthalb Jahren. Alle 736 gewählten Abgeordneten sind da, der Bundestag ist so groß und vielfältig wie nie zuvor.
Die Regierungsbank ist leer, mit diesem Tag ist Bundeskanzlerin Angela Merkel nur noch geschäftsführend im Amt, sie hat auf der Tribüne neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Platz genommen. Auch das ein Zeichen kommender Veränderungen. Die Frau, die 16 Jahre lang die Geschicke des Landes bestimmt hat, ist nur noch eine Art Zaungast. Schließlich gehört sie dem neuen Bundestag nicht mehr an. Merkel wird von Alterspräsident Wolfgang Schäuble von der CDU begrüßt, so, wie es sonst nur mit ausländischen Staatsgästen geschieht. Auch Olaf Scholz, der noch amtierende Finanzminister und womöglich künftige Bundeskanzler, hat in den Reihen seiner SPD-Fraktion Platz genommen, nicht auf der Regierungsbank. Das ist gute Tradition so, wenn nach einer Wahl alles neu beginnt.
Ein Hauch von Zeitenwende
Einige bekannte Politiker sind neu im Parlament: Robert Habeck etwa, der Vorsitzende der Grünen, der derzeit mit der FDP und den SPD über eine mögliche neue Regierung verhandelt. Habeck sitzt der in der zweiten Reihe seiner Fraktion. Und bei der SPD findet sich Kevin Kühnert, der frühere Chef der Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Beide, Habeck und Kühnert, sind erstmals im Bundestag. Und Friedrich Merz sitzt in den Reihen seiner CDU, der frühere Fraktionschef und bittere Widersacher von Angela Merkel. Er hat jetzt erstmals wieder seit 2009 ein Bundestagsmandat errungen. 279 Parlamentarier sind neu im Bundestag, das erwähnt Schäuble ausdrücklich. Es klingt ein bisschen nach Zeitenwende.
Ein politisches Urgestein tritt in den Hintergrund
Überhaupt, Wolfgang Schäuble. Noch einmal steht zu Beginn der Sitzung der große alte Mann der CDU im Zentrum der Aufmerksamkeit, der scheidende Präsident, 79 Jahre alt. Seit 1972, seit fast einem halben Jahrhundert, gehört er dem Parlament an. Er hat die Deutsche Einheit maßgeblich mit verhandelt, er war lange Minister, für Inneres und für Finanzen. Jetzt kann er als Präsident des Bundestages nicht mehr weitermachen, das Vorschlagsrecht steht der stärksten Fraktion zu, und das sind nach der Bundestagswahl die Sozialdemokraten. Schäuble wird künftig nach einer langen Politikerkarriere ein einfacher Abgeordneter sein.
Schäuble: "Den Streit ins Parlament tragen."
Seine Eröffnungsrede ist ein einziger Appell an die demokratischen Regeln. Er erwähnt die Spaltung der Gesellschaft, die Unmöglichkeit, bei vielen Themen noch Konsens herzustellen, die oft tumultartigen Sitzungen der vergangenen vier Jahre. Jetzt sagt er: "Wir sollten den Streit in der Mitte der Gesellschaft suchen und ihn öffentlich hier im Parlament austragen. Indem wir deutlich machen, dass nicht die eine Seite allein Recht hat."
Zuhören, Argumente abwägen, das müsste demokratische Regel sein und bleiben. Auch den Klima-Aktivisten, die auf den Straßen sofortiges Handeln der Politiker fordern, redet Schäuble ins Gewissen, meint dabei aber eher den Stil als den Inhalt: "Ihre Motive sind nachvollziehbar. Aber wissenschaftliche Erkenntnis allein ist noch keine Politik. Schon gar nicht demokratische Mehrheit. Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie gegen das demokratische Prinzip in Stellung. Übrigens kann die Wissenschaft genauso wenig letzte Gewissheit liefern."
Anstand in der Politik
Langen Beifall bekommt Schäuble dann, als er skizziert, was für ihn einen guten Parlamentarier ausmacht: "Wer sich über die Verhaltensregeln hinaus, die wir uns gegeben haben, den Sinn dafür bewahrt, was anständig ist und womöglich noch stärker, was unanständig ist. Oder: Früher hätte man gesagt, was sich gehört und was nicht." Fast alle Parlamentarier stehen auf und spenden Applaus, sogar die Fraktionsvorsitzende der rechts-populistischen "Alternative für Deutschland" (AfD), Alice Weidel. Obwohl sich Schäubles Worte sicher vor allem an die Adresse der AfD richten, gegen die oft auch persönlich verletzende Rhetorik der Rechts-Populisten, auch im Bundestag. Aber Schäubles Idee scheint auch zu sein: Demokratischen Streit gibt es zwischen allen Lagern, nicht nur zwischen der AfD und den anderen Fraktionen im Haus, wie die Rechts-Populisten gern behaupten.
23 Parlamentarier wegen Corona auf der Tribüne
Der heftige Streit um die Corona-Pandemie spiegelte sich auch im Bundestag. Auf einer eigens für sie reservierten Tribüne nehmen rund 23 Parlamentarier Platz, alle von der AfD, die sich nicht an die für den Plenarsaal geltenden Regeln halten wollten. Die sehen vor, dass im unteren Bereich des Saals nur geimpfte, genesene oder getestete Politiker Platz nehmen dürfen. Es wird deutlich: Der Streit um den richtigen Weg in der Pandemie wird auch in Zukunft im Bundestag spürbar sein. Auch wenn vieles neu ist, wenn Aufbruchsstimmung herrscht: Viele Kontroversen der letzten vier Jahre werden auch den neuen Bundestag bestimmen.