Öko-Update für Estlands Plattenbauten aus der Sowjetzeit
22. Juli 2019Das Erbe der kommunistischen Vergangenheit von Tartu zeigt sich in den 100 "Chruschtschowka"- den Mehrfamilienhäusern aus der Sowjetzeit, die überall in der estnischen Stadt verstreut sind. Benannt nach dem damaligen sowjetischen Premierminister Nikita Chruschtschow, wurden sie ab den 1950er Jahren als vorläufige Unterkünfte gebaut, um den chronischen Wohnungsmangel nach dem Krieg zu bekämpfen.
Neunzehn "Chruschtschowkas", die in den 1960er Jahren gebaut wurden, stehen heute im Mittelpunkt von SmartEnCity. Das von der EU finanzierte neue Projekt soll Städte in Europa nachhaltig und ressourceneffizient machen. In Tartu sollen die Gebäude vor einer unsicheren Zukunft bewahrt werden, indem man sie in energieeffiziente "Smart Homes" verwandelt - was ihnen den neuen Spitznamen "Smartovkas" eingebracht hat.
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Ziel des Projekts ist es, hochwertige Lebensumgebungen zu schaffen. Das soll den Bewohnern helfen, auch selbst einen umweltfreundlicheren Lebensstil zu entwickeln. Die Wohnungen in Tartu werden mit Solaranlagen, neuen Dämmungen, Fenstern, Lüftungssystemen und Zentralheizungen ausgestattet. Jede Wohnung erhält auch ein sogenanntes "Smart-Home-System", mit dem die Bewohner erstmals ihren Energieverbrauch überwachen und steuern können.
"Die Chruschtschowkas wurden nicht mit Blick auf Energieeffizienz gebaut", erklärt Veronika Mooses. Die Nachwuchsforscherin an der Universität Tartu überwacht den Verlauf des SmartEnCity-Projekts. "Den Menschen in der Mitte des Gebäudes kann im Winter ziemlich heiß sein, während die Menschen an den Gebäuderändern richtig frieren."
Die Chruschtschowkas wurden sehr schnell im gleichen Plattenbau-Design hochgezogen und sollten nur etwa 30 oder 40 Jahre halten.
Die typischerweise gelb- oder weißgestrichenen Wohnblöcke aus der Sowjetzeit sind zwischen drei und fünf Stockwerke hoch. In Moskau werden Tausende solcher Wohnungen abgerissen, da sie die Lebensdauer erreicht haben, für die sie ursprünglich ausgelegt waren. In Tartu sollen die Gebäude jedoch so umgestaltet werden, dass sie die Energieeffizienzklasse A erreichen - die höchste Stufe unter den Gebäudestandards. Derzeit sind die meisten in der Klasse F eingeordnet - oder in der Klasse H, der untersten Stufe. Laut Raimond Tamm, stellvertretender Bürgermeister von Tartu und Projektleiter von SmartEnCity, geht das ehrgeizige Projekt über die bisher in der Stadt üblichen Nachrüstungen alter Gebäude hinaus.
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"Es ist eine echte Herausforderung. Zu Beginn des Projekts hat man mir oft gesagt, dass es nicht funktionieren wird", sagt Tamm. Für ihn wiegen aber die potenziellen Vorteile die auftauchenden Probleme auf. Wenn alles klappt, wird seiner Einschätzung nach jedes Mehrfamilienhaus zwei Drittel der heute verbrauchten Energie einsparen. Das bedeutet eine Verringerung von jährlich 270 Kilowattstunden pro Quadratmeter (kWh/m2y) auf 90 kWh/m2y.
Tonis Eelma wohnt in einer bereits renovierten Chruschtschowka. Er sagt, der Energie- und Gasverbrauch sei bereits deutlich gesunken. "Dieser Winter wird der Moment der Wahrheit sein, aber alles ist schon viel besser."
Alle Wohnungen im Gebäude befinden sich in Privatbesitz. Die Bewohnerschaft ist vielfältig, sie umfasst junge Familien, aber auch Menschen, die schon gleich nach der Errichtung des Gebäudes im Jahr 1964 einzogen. Anfangs sei es schwierig gewesen, die Älteren dazu zu bringen, dem Projekt zuzustimmen, sagt Eelma. Aber bei einer Abstimmung sprach sich nur eine Person gegen die Teilnahme aus.
Tartus stellvertretender Bürgermeister Tamm sagt, das Projekt sei wegen seiner hohen Kosten kritisiert worden. Die Renovierung jedes Mehrfamilienhauses hat rund eine Million Euro gekostet. Mit rund vier Millionen Euro kommt fast die Hälfte der Mittel von der Europäischen Union, dazu gibt es Beiträge aus einem nationalen Förderprogramm.
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Der Rest des Geldes, rund 50 Prozent, wurde von den Wohnungsgesellschaften als Kredit aufgenommen. Einige Kritiker glauben nicht, dass es sich lohnt, die Wohnungen zu retten und sagen, die Gebäude sollten lieber abgerissen werden. Nach Ansicht von Tamm aber ist das keine billigere oder einfachere Lösung.
Forscherin Mooses fand heraus, dass für viele Bewohner der Hauptanreiz darin bestand, die eigenen Energiekosten zu senken. Um das Projekt mitzufinanzieren, mussten sie ein Darlehen aufnehmen, das über 20 Jahre zurückgezahlt wird.
Das Gebäude, in dem Tonis Eelma wohnt, hat 32 Eigentumswohnungen. Dort werden die Kreditrückzahlungen rund 100 Euro pro Monat und Wohnung betragen.
Diese Rückzahlungen werden schätzungsweise jedoch durch die gesparten Energiekosten ausgeglichen, sagt Eelma. Die meisten anderen Gebäude haben einen niedrigeren Rückzahlungsbetrag, da die Wohnungsbaugesellschaft des von Eelma bewohnten Gebäudes beschloss, unter anderem auch noch Balkone nachzurüsten.
"Im Jahr 2019 ist der Wärmeverbrauch um mehr als 50 Prozent gesunken", sagt Eelma und fügt hinzu, dass die Heizung nun auch zur Erwärmung von Leitungswasser und Belüftungsluft genutzt wird. "Der Gasverbrauch ist um mehr als 80 Prozent gesunken. Und wir haben mehr als dreimal mehr Strom [durch die Solaranlage] produziert als wir über das Netz verbrauchen."
Zu den Regeln des SmartEnCity-Projekts gehört, dass die Ergebnisse replizierbar sein müssen. Deshalb wurden in Tartu die einheitlich gestalteten Chruschtschowkas ausgesucht. Estland verfügt über insgesamt schätzungsweise 6.000 Mehrfamilienhäuser dieser Art. Das SmartEnCity-Team, zu dem auch Partner aus dem öffentlichen und privaten Sektor gehören, hat bereits Interesse von anderen estnischen Städten signalisiert bekommen. Und auch von Städten in Lettland, Polen und Bulgarien - Länder, die ebenfalls über große Bestände an Wohnungen aus der Sowjetzeit verfügen.
Das Projekt hat Partnerstädte in Dänemark und Spanien. Dort werden auch Wohnungen nachgerüstet, um den Energieverbrauch zu senken. In Tartu sind drei "Smartovkas" fertig, der Rest ist in der Renovierungsphase.
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In Tartu waren die ersten Reaktionen überraschend, sagt Mooses, die im Rahmen ihrer Forschung die Bewohner befragte. Es wird zwar auch neue Radwege und Stationen für gemeinschaftlich genutzte Fahrräder geben sowie biogasbetriebene Busse und LED- Straßenbeleuchtungs-Anlagen, die mit Hilfe von Bewegungssensoren gesteuert werden und gleichzeitig auch die Luftverschmutzung überwachen. Am meisten fasziniert aber waren die Menschen vom Einsatz intelligenter Technologie zu Hause. Die Überwachung des eigenen Energieverbrauchs durch Smart-Home-Systeme hat zu einem Nachdenken über persönliche Verhaltensmuster geführt. Der Wunsch, umweltfreundlicher zu leben, konnte so in die Tat umgesetzt werden.
"Die Menschen haben eine wirkliche Verbindung zu diesem Projekt aufgebaut", sagt die Forscherin. "Es ist nicht so, dass irgendwo einige Daten gespeichert sind und die Leute nicht verstehen, um was es geht. Dieses Projekt bezieht sich auf Orte, die für Menschen von größter Bedeutung sind: ihre Häuser."