Falsche Übertreibungen
13. Januar 2014Für EU-Kommissar Laszlo Andor, der für soziale Fragen und Beschäftigung zuständig ist, ist vieles an der Debatte um die Migration von einem EU-Staat in einen anderen aufgebauscht. Der innenpolitische Kalender eines Mitgliedsstaates bestimme offenbar die Intensität der Diskussion, sagte Andor in Brüssel mit Blick auf bevorstehende Kommunalwahlen im deutschen Bundesland Bayern. Die bayrische Regierungspartei CSU hatte mit ihrem Slogan "Wer betrügt, der fliegt" die Diskussion um so genannte Armutsmigration aus Rumänien und Bulgarien befeuert. Seit dem 1. Januar sind die Beschränkungen für den Zuzug von Rumänen und Bulgaren als EU-Bürger nach Deutschland oder auch Großbritannien vollständig aufgehoben.
Die "Süddeutsche Zeitung" aus München hatte am Freitag berichtet, die EU-Kommission wolle, dass Deutschland mehr EU-Bürgern Sozialleistungen gewähre. Das hatte erneut heftige Vorwürfe von Seiten der CSU erzeugt. Der bayrische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sagte dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", es sei zum Verzweifeln, "wie wenig diese EU-Kommission die Lebensrealität der Menschen in Europa zur Kenntnis nimmt".
EU sieht keinen Mangel an Informationen
Nach Ansicht von EU-Kommissar Andor verdrehten die CSU und manche Medien die Realität. "Es stimmt einfach nicht, wenn jetzt behauptet wird, dass Brüssel Druck macht, dass jeder vom ersten Tag an Sozialleistungen erhält." Die Kommission weise lediglich darauf hin, dass jeder Einzelfall geprüft werden müsse und dass die pauschale Verweigerung von Sozialhilfe für EU-Bürger in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts europarechtlich fragwürdig sei. Und dann spitzte Andor noch einmal zu: "Die politische Agenda in manchen Mitgliedsländern, zum Beispiel ein Referendum am Horizont, sorgt für diese Art von Diskussionen. Es ist nicht der Mangel an Information, der zu übertrieben emotionalen und fehlgeleiteten Diskussionen in manchen Mitgliedsstaaten führt." Das Referendum, das der britische Premierminister David Cameron 2017 über die Zugehörigkeit Großbritanniens zur EU abhalten will, werfe schon seine Schatten voraus, mutmaßt der EU-Kommissar.
Einen Konflikt zwischen deutschem Sozialrecht und komplizierten europarechtlichen Bestimmungen sieht nicht nur die EU-Kommission, sondern auch das Bundesarbeitsgericht. Das hat einen Fall jetzt dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zur Prüfung vorgelegt. Der Vorsitzende des Bundes deutscher Sozialrichter, Hans-Peter Jung, sagte im "Deutschlandfunk", die Sozialgerichte würden in eine politische Rolle gezwungen, die sie gar nicht haben wollten. Der Zug habe schon Fahrt aufgenommen, als Rumänien und Bulgarien in die EU aufgenommen wurden, so Jung.
"Eigentlich müsste der Politik schon seit damals klar sein, zu welchen Folgen das führen kann angesichts der überaus unterschiedlichen Lebensstandards in Rumänien und Bulgarien einerseits und in der Bundesrepublik andererseits. Die Gerichte, und in diesem Fall die Sozialgerichte, werden immer wieder in diese Rolle hineingedrängt." Die Rechtslage sei sehr komplex. Deutsches Recht müsse im Lichte des Europarechts eventuell neu ausgelegt werden, so Richter Jung.
Pfade durch den Dschungel der Bestimmungen
Die EU-Kommission legte am Montag ein neues Handbuch vor, das nationale Behörden durch den offenbar unwegsamen Dschungel der Sozialgesetze führen soll. Kern sind klare Kriterien zur Prüfung, ob ein EU-Bürger legal dauerhaft in einem anderen EU-Staat lebt. Wer nach drei Monaten im Gastland keiner Arbeit nachgehe und nicht anderweitig für seinen Lebensunterhalt sorgen könne, habe keinen Anspruch auf Sozialleistungen, so die EU-Kommission. Wer nachweise, dass er Arbeit suche und Chancen auf einen Arbeitsplatz habe, darf bis zu sechs Monate im Gastland bleiben. Nur wer fünf Jahre legal im Gastland lebt, hat danach Anspruch auf Sozialleistungen. Auch hier müsse der Einzelfall geprüft werden, einen Automatismus könne es nicht geben. "Das EU-Recht muss Schutz vor Missbrauch von Sozialleistungen in anderen EU-Staaten bieten", sagte Laszlo Andor bei der Vorstellung des Leitfadens.
Für die Mehrheit der EU-internen Migranten, nämlich Menschen, die Arbeit aufnehmen, sei der Fall ohnehin klar, so EU-Kommissar Andor: "Wer in einem Mitgliedsland arbeitet, hat Anspruch auf die gleichen Sozialleistungen wie ein Arbeitnehmer aus diesem Gastland. Denn dort bezahlt man ja auch die gleichen Steuern und Beiträge für die Sozialversicherung." Insgesamt gelte, dass die EU-Zuwanderer in den meisten Fällen mehr in die Sozialsysteme einzahlten, als sie ausgezahlt bekämen. Das zeigten die Statistiken und Studien der EU-Kommission.
Die Regeln für die EU-Einwanderer seien nicht neu, sagte der zuständige EU-Kommissiar, sondern im Leitfaden lediglich noch einmal neu dargestellt worden. Alle 28 EU-Mitgliedsstaaten, auch Deutschland und Großbritannien, hätten diese Regeln erst im November 2013 noch einmal bestätigt. Die so genannte "Freizügigkeitsrichtlinie" gilt seit über zehn Jahren in der EU.
"Das verschwindet auch wieder"
"Diesen Konsens sehe ich nicht gefährdet", so Laszlo Andor. Die Debatte über angeblichen Missbrauch und eine Verschärfung von Vorschriften werde auch wieder abebben. "Solche Vorschläge tauchen immer wieder auf. Nach einiger Zeit verschwinden sie aber auch einfach wieder. Wenn man in Großbritannien zum Beispiel erkennt, dass es nach dem 1. Januar keinen Ansturm von Rumänen und Bulgaren gibt und dass Arbeitsmigranten mehr in die Sozialsysteme des Gastlandes einzahlen als sie herausbekommen, dann wird es wahrscheinlich ein vernünftiges Ende der Debatte geben", sagte der EU-Kommissar.
Der Vorsitzende des Bundes deutscher Sozialrichter sagte, man könne nicht pauschal von den Rumänen oder den Bulgaren sprechen. "Sehr viele Zuwanderer aus diesen Ländern sind hoch qualifiziert, und die bekommen wir bei den Sozialgerichten gar nicht zu sehen, weil sie nämlich sehr schnell eine Arbeit finden und ihren Lebensunterhalt sichern können", so Hans-Peter Jung im Interview mit dem "Deutschlandfunk". Rund 14 Millionen der 550 Millionen EU-Bürger leben im Ausland. Die überwiegende Mehrheit arbeitet, nur ein kleiner Teil sei auf Sozialleistungen angewiesen, so die EU-Kommission.