1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Hirsch: Spannende Frage

Bernd Riegert14. Januar 2014

Europäisches Recht zu Sozialleistungen an EU-Bürger ist eindeutig. Das Problem sei das deutsche Recht, sagt die Europaabgeordnete Nadja Hirsch im DW-Interview. Spannende Fragen für den Gerichtshof in Luxemburg.

https://p.dw.com/p/1AqFn
Porträt - Nadja Hirsch (Foto: Andreas Gebert dpa/lby)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Die EU-Kommission hat beklagt, in der Debatte um EU-Migranten aus Rumänien und Bulgarien würden viele Emotionen geschürt und schlichtweg auch Falsches behauptet. Teilen Sie diese Auffassung, dass da Vieles übertrieben wird, weil in Bayern Wahlen anstehen und in Großbritannien Premier Cameron einen europakritischen Kurs einschlägt?

Nadja Hirsch: Man sieht ganz klar, dass die CSU das als Auftaktveranstaltung sowohl zu den Kommunalwahlen im März als auch zu den Europawahlen im Mai genutzt hat, denn die Thematik an sich ist bekannt. Das Problem ist nicht neu, auf das hat ja schon der Deutsche Städtetag hingewiesen.

Die EU hat versucht, mit einem Leitfaden das komplexe Recht bei der Gewährung von Sozialleistungen in der EU etwas zu entwirren. Gilt denn die alte Regel noch: Wer keine Arbeit findet und sich nicht selbst finanzieren kann und den Sozialsystemen zur Last fallen würde, der muss wieder gehen? Oder sehen Sie das inzwischen aufgeweicht?

Nein, das ist immer noch so, dass die europäische Gesetzgebung sagt, nur wer gearbeitet und eingezahlt hat, bekommt auch Leistungen. Das wird auch in den Leitlinien, die die Kommission herausgegeben hat, noch einmal klar dargestellt. Man muss allerdings sagen, dass die EU-Kommission versucht, es ein wenig aufzuweichen, weil sie in die Einzelfall-Prüfungen gehen möchte. Da sage ich, das hat überhaupt keinen Sinn. Denn das würde letztendlich mehr Bürokratie bei den einzelnen Arbeitsagenturen in Deutschland auslösen. Und das wollen wir natürlich nicht.

Aber ist die EU-Kommission da nicht auf einer Linie mit vielen deutschen Sozialgerichten, die auch auf Einzelfall-Prüfung aus sind und sagen, der Anspruch auf Sozialhilfe und Arbeitslosengeld kann durchaus auch vor dem Ablauf von drei Monaten bestehen? Es gibt auch ein Verfahren, das dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt wurde. Da scheint es doch Unsicherheit zu geben?

Die wirkliche Unsicherheit, aber das wird leider in den wenigsten Diskussionen herausgestellt, ist die, dass nicht ganz klar ist, ob unser deutsches Arbeitslosengeld II (auch "Hartz 4" genannt, Red.) eine Sozialleistung ist oder ob es eher eine Unterstützung zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt ist. Das ist tatsächlich ein riesiger Unterschied, weil es bei "normaler" Sozialhilfe keine Unklarheiten gibt. Da müsste man gar nicht diskutieren: Die wird nicht gezahlt. Bei einer Wiedereingliederungshilfe in den Arbeitsmarkt hingegen befinden wir uns im Bereich des europäischen Binnenmarktes. Und da ist es tatsächlich so, dass einzelne Menschen nicht diskriminiert werden dürfen. Das wird die eigentlich spannende Frage sein: Wie wird der Europäische Gerichtshof - auch in der Gesamtschau der Regelungen in anderen europäischen Ländern - das deutsche Arbeitslosengeld II bewerten?

Das heißt, die Debatte ist auch ein deutsches Problem? Sozialleistungen sind ja eigentlich Sache der Mitgliedsstaaten. Es kommt also darauf an, wie man es definiert? Es muss nur so sein, dass inländische Bürger nicht besser gestellt sind als EU-Bürger, die in dieses Land kommen?

Ja, aber nur bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gilt dieses Prinzip des Binnenmarktes, wo es keinerlei Diskriminierung geben darf. Anders ist es im Sozialhilfebereich. Das ist die Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Das Problem ist, dass wir das in Deutschland ganz klassisch aufgesplittet haben. Gelder, die jemand bekommt, der theoretisch erwerbsfähig, also arbeitssuchend ist, sind im Sozialgesetzbuch II geregelt. Gelder, die Nicht- Erwerbsfähige erhalten, sind im Sozialgesetzbuch XII geregelt. Insofern ist da eine Trennung angelegt, die der deutsche Gesetzgeber dann unter Umständen überprüfen und gegebenenfalls ändern muss.

Alles in allem eine sehr komplizierte Materie, Frau Hirsch. Fürchten Sie, dass das Ganze in den Europawahlkampf gezogen wird und dann zu sehr einfachen Parolen verkürzt und missbraucht wird?

Man hat es ja jetzt leider schon erlebt, dass das Thema genutzt wird, um Stimmung gegen Europa an sich zu machen. Insofern mache ich mir schon Sorgen, dass das Thema Freizügigkeit, das eine riesige Errungenschaft für die EU ist, das gut ist und positiv ist, jetzt in Mitleidenschaft gezogen wird.

Nadja Hirsch ist seit 2009 Europaabgeordnete und gehört der FDP an. Die 35-Jährige ist stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Soziales und Beschäftigung im Europäischen Parlament. Die Psychologin und Wirtschaftswissenschaftlerin war als Stadträtin in München sieben Jahre für die Freien Demokraten in der bayrischen Kommunalpolitik aktiv.

Das Interview führte Bernd Riegert.