EU für pragmatischen Umgang mit den Taliban
3. September 2021Für den EU-Chefdiplomaten Josep Borrell ist es ein Erfolg: Die europäischen Außenminister befürworten ein gemeinsames Vorgehen beim Umgang mit der neuen Taliban-Regierung in Kabul. Man habe sich auf Mindestanforderungen geeinigt, die sie erfüllen müsse, um ein "operatives Engagement" der Europäer mit den neuen Machthabern zu ermöglichen, sagte Borrell nach dem Treffen mit seinen EU-Kollegen im slowenischen Brdo. "Afghanistan hat Bedeutung für unsere Sicherheit", betont er, es gehe unter anderem darum, den Export von Terrorismus und Drogenzu verhindern.
Pragmatismus ist das Leitmotiv
Deutschland und Frankreich hatten ein Papier vorgelegt, um die Debatte unter den Außenministern zu steuern. Aber die Einigkeit schien von vornherein breit: Man wolle "Arbeitskontakte" zu den Taliban, betonte etwa der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis, man müsse mit den Nachbarstaaten Afghanistans zusammenarbeiten und eine weitere Migrationskrise verhindern. Das schien auch Hauptanliegen des Österreichers Alexander Schallenberg, der eine klare, gemeinsame Sprache forderte.
Gerade die kleinen Mitgliedsländer scheinen froh über ein koordiniertes Vorgehen, um die heikle Balance zwischen notwendigem Kontakt zu den Taliban und unerwünschter Unterstützung des neuen autoritär-religiösen Regimes in Kabul zu finden, dem politische und demokratische Legitimität fehlen.
"Wir wollen mit den Taliban ausloten, was unsere Erwartungen sind und darauf haben wir uns verständigt", sagt Bundesaußenminister Heiko Maas. Geknüpft werden soll die Zusammenarbeit an eine Reihe von Bedingungen. "Wir werden die Kontakte zu den Taliban daran messen, inwieweit sie die diese Konditionen erfüllen", betont Chefdiplomat Borrell. Die Taliban sollen demnach den Export von Terrorismus verhindern, Menschen- und insbesondere auch Frauenrechte wahren sowie Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit sicherstellen.
Darüber hinaus solle die neue Regierung inklusiv sein, wobei Diplomaten einräumen, man werde sicherlich nicht viele Frauen darin finden. Vielleicht müsse man schon mit der Einbeziehung von Minderheiten wie den Hazaraoder von früheren Warlords zufrieden sein. Schließlich müssten die anerkannten Regeln für internationale Hilfslieferungen respektiert und die Bewegungsfreiheit sowie die Ausreise derer erlaubt werden, die das Land aus Angst vor Verfolgung verlassen wollten.
Kein Schwarz oder Weiß
Es werde kein Schwarz oder Weiß geben, erklärten Diplomaten am Rande des Treffens, sondern ein abgestuftes Vorgehen. Erfüllen die Taliban die Kriterien nur in geringem Maße, wird das Engagement auf die notwendigsten Kontakte beschränkt, um vor allem die drohende humanitäre Katastrophe im nahenden Winter zu verhindern. Schon jetzt zahlt etwa Deutschland Millionen an die UN-Hungerhilfe, um die notwendigen Lieferungen nach Afghanistan zu unterstützen. Auch dabei spielt Eigeninteresse eine Rolle: Kommt eine Hungersnot, drohe eine massenhafte Fluchtbewegung, so befürchten EU-Vertreter.
Der Bundesaußenminister erwartet erste Signale von der Regierungsbildung in Kabul, die am Freitag auf das Wochenende verschoben worden war. "Wir haben in den letzten Tagen viele moderate Signale gehört, aber wir müssen sie an ihren Taten und nicht an ihren Worten messen", sagt Maas. Es geht darum, ob und wann die Europäer bereit sind, wieder Entwicklungshilfe über die dringendste humanitäre Unterstützung hinaus zur Verfügung zu stellen.
Dabei werden die Europäer auf schmalem Grat wandeln: Geben sie beispielsweise Geld zur Finanzierung der Schulen im Land, weil die Taliban die Lehrer nicht bezahlen können, werden sie auf gleichberechtigtem Unterricht für Mädchen beharren oder nicht? Und wie kann man die Umsetzung kontrollieren?
Evakuierung fortsetzen
Zu den unmittelbaren Zielen der Europäer gehört die Evakuierung von Menschen, die in der chaotischen Endphase am Flughafen Kabul zurückgelassen werden mussten. Hier gibt es eine informelle Zusammenarbeit der Länder, die noch Helfer oder Mitglieder der Zivilgesellschaft ausfliegen wollen. ist. Derzeit bemühen sich die USA, die Türkei und Katar um eine Wiederherstellung des Flugverkehrs in Kabul. Die NATO bestätigt, dass die Gespräche mit den Taliban darüber noch im Gange seien.
Bundesaußenminister Heiko Maas hatte bei seiner Rundreise in die Nachbarländer in der vorigen Woche erste Kontakte geknüpft, um eine Durchreise der Afghanen auf dem Landweg zu organisieren. Künftig aber will die EU in der Region eine gemeinsame diplomatische Präsenz aufbauen, eine Art Brückenkopf, um die Interessen der Europäer in Afghanistan und dessen Nachbarländern zu vertreten. Im nächsten Schritt denkt man auch an eine begrenzte Vertretung in Kabul, wo Geschäftsträger der Mitgliedsländer wie der EU unter einem gemeinsamen Dach arbeiten könnten.
Dafür müsste jedoch zunächst die Sicherheitsfrage geklärt werden. Es gebe verschiedene Modelle, erklären Diplomaten dazu - eine gesicherte Zone am Flughafen zum Beispiel, die im Innenbereich von Soldaten der Mitgliedsländer geschützt werde. Oder ein Modell, in dem westliche Vertreter tageweise aus den Nachbarländern einfliegen. Aber das liegt in der Zukunft, zunächst geht es darum, etwa von Pakistan oder Katar aus überhaupt verlässliche Gesprächskontakte aufzubauen.
Kein Blick zurück
"Die Zeit des Wundenleckens ist vorbei", sagt Heiko Mass zur Frage nach dem Blick zurück. "Wir wollen nicht sehen, wie die gesamte Region zusammenbricht", fügt er hinzu. "Wir können nicht lange diskutieren, sondern müssen Antworten liefern.
Und Maas sagt einmal mehr, dass man ohne die Amerikaner und ihre militärischen Fähigkeiten eben nicht hätte in Kabul bleiben können. Politisch hätte es dazu sowieso keinen Konsens bei den Europäern gegeben. Und wenn man an den Einsatz der bisher fiktiven EU-"Battlegroups" denke, deren Wiederbelebung in Form einer schnellen Eingreiftruppe sich die Verteidigungsminister am Donnerstag vorgenommen hatten, habe der politische Wille dazu bisher nicht gereicht. Ein ernüchterndes Resümee aus dem folgt, dass die EU die veränderte Realität in Afghanistan zur Kenntnis zu nehmen und damit schlecht oder recht umgehen muss.