Der Ruf nach europäischer Verteidigung
2. September 2021EU-Chefdiplomat Josep Borrell nennt die Erfahrung des Afghanistan-Abzugs einen "Katalysator" - eines jener historischen Ereignisse, die für politische Bewegung sorgen und einen Durchbruch bei der europäischen Verteidigung erzeugen können. "Wann, wenn nicht jetzt?", fragt Borrell. Reicht der Druck also, um die europäischen Verteidigungsminister, die angesichts der Ereignisse in Kabul erkennbar unter ihrer Machtlosigkeit und mangelnden Handlungsfähigkeit leiden, zu einem Sprung nach vorn in der Verteidigungspolitik anzutreiben?
Bitteres Ende, schwere Niederlage
Deutschlands Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer spricht von einem "bitteren Ende, einer schweren Niederlage" in Afghanistan. Man werde sehen, ob der Westen dadurch dauerhaft geschwächt werde. Und sie bedauert, dass die Europäer mit den militärischen Fähigkeiten noch "nicht so weit sind". Davon aber hänge auch die Glaubwürdigkeit Europas in der Zukunft ab, denn bisher sei man von den USA abhängig, wie man in Kabul erlebt habe.
Die Minister diskutieren im slowenischen Brdo, ob sie unter dem Druck der Ereignisse mit dem Plan für eine schnelle europäische Eingreiftruppe vorankommen, der seit Mai auf dem Tisch liegt. 5000 Mann sollen dafür bereit stehen und in Krisen reagieren können - in Situationen wie am Flughafen von Kabul, wo die Evakuierung von Ausländern wie afghanischen Helfern militärisch gesichert werden musste. Die Flüge der Europäer endeten in dem Moment, in dem die USA ihre Soldaten abzogen. Seitdem stellen sich die Europäer einmal mehr die Frage, ob sie nicht selbst imstande sein müssten, in einer solchen Lage einzugreifen.
Trotz der deutlichen Frustration von Kramp-Karrenbauer und vielen ihrer Kollegen kommt aber am Ende des Treffens wieder nur der Plan für eine schrittweise Fortentwicklung des Vorschlags zustande, der im Mai von den Franzosen auf den Tisch gelegt worden war. Wer nach dem Afghanistan-Debakel einen größeren politischen Sprung erwartet hatte, wird enttäuscht.
Wieder nur ein Plan auf Papier
Bis Herbst will Deutschland nun ein Papier vorbereiten, um die Pläne voranzubringen. "Ich habe heute in der Debatte über Afghanistan noch einmal darauf hingewiesen, dass wir auch deswegen dem Abzug der Amerikaner in Afghanistan nichts entgegengesetzt haben, weil wir nicht in der Lage waren, selbst in Afghanistan zu bleiben, mit Blick auf unsere eigenen Kräfte", sagt Annegret Kramp-Karrenbauer unumwunden.
Deswegen müsse diese Debatte jetzt konkret geführt werden, wer welche speziellen Fähigkeiten habe und welche Armee bereit sei, sie für das Gemeinschaftsprojekt einzubringen. Die Verteidigungsministerin meint, die notwendigen militärischen Fähigkeiten seien in Europa vorhanden, müssten aber endlich gebündelt werden, um der EU die so dringend erwünschte "sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit" zu verschaffen.
Deutschland will dafür den Artikel 44 nutzen, die Vorschrift im EU-Vertrag, die es den Mitgliedsländern erlaubt, eine Gruppe von ihnen mit einer bestimmten Mission zu beauftragen. Dieser Beschluss muss allerdings weiter einstimmig gefasst werden. Wie die betreffende Koalition der Willigen dann aber den Einsatz koordiniert und durchführt, kann sie selbst entscheiden. Damit soll die in der EU berüchtigte Einstimmigkeitsfalle umgangen werden, die viele Fortschritte behindert.
Die Idee ist, dass die nicht beteiligten Länder kein Interesse daran haben würden, einen Einsatz zu behindern, zu dem sie nichts beitragen müssen. Die Tür für die üblichen Erpressungsspielchen unter den Mitgliedsländern würde allerdings offenbleiben, weil noch das kleinste Mitglied auch aus sachfremden Gründen sein Veto einlegen könnte.
Interessengegensätze überbrücken
Wie groß die Interessengegensätze in der Verteidigungspolitik zwischen Süd- und Nordländern sind, zeigte zum Beispiel der Auftritt des lettischen Ministers Artis Pabrika. Er habe kein Interesse an Afghanistan, räumte er ein, sondern wolle stattdessen Hilfe an der Grenze zu Belarus. Dort treffen nach Angaben der Anrainerländer Tausende von Migranten ein, die durch das Regime von Alexander Lukaschenko eingeschleust würden, um die baltischen Länder unter Druck zu setzen.
Der Lette ist skeptisch, was die großen Vorhaben zur Verteidigungspolitik angeht. "Was ist denn aus den Battle Groups geworden?", fragt er spöttisch. "Sie wurden nie eingesetzt". Der Plan für solche gemeinsam aufgestellten Kampftruppen geistert seit rund einem Jahrzehnt durch die EU. Es gehe doch nicht nur um militärische Fähigkeiten, sondern vor allem um den fehlenden politischen Willen, sagt dagegen Artis Pabrika.
Außerdem müssten einige Länder, und damit meint der Minister Deutschland, endlich auch eine öffentliche Debatte über Verteidigungsbereitschaft und die damit verbundenen Verpflichtungen führen. "Wir müssen begreifen, dass die Welt sich rasant verändert. Wir brauchen auch harte Macht, um Europa zu verteidigen", stellt der lettische Minister fest.
Unterschiedliche Blickrichtungen
Während die baltischen Staaten vor allem Übergriffe durch Russland fürchten, sind die südlichen Länder besorgt wegen der anhaltenden Konflikte im Nahen Osten, wie etwa in Libyen oder in der Sahelzone. Diese unterschiedlichen Orientierungen will Deutschland mit einer Regionalisierung der künftigen EU-Einsatztruppen umgehen. Nord- und Südländer sollen sich jeweils verbünden. Allerdings gibt es in der EU nach dem Austritt der Briten nur noch Frankreich und eingeschränkt Deutschland als größere Militärmächte. Sie würden jedenfalls an beiden Achsen der Union gebraucht.
Verabschiedet werden soll das Projekt "schnelle Eingreiftruppe" im Frühjahr, wenn Frankreich den rotierenden EU-Vorsitz innehat. Der Gastgeber, Sloweniens Verteidigungsminister Matej Tonin, will dagegen mehr, nämlich einen Mechanismus, um Militäreinsätze per Mehrheitsentscheid zu beschließen. Alle Pläne für "Einsatz- oder Kampfgruppen" seien am Ende nutzlos, wenn es keine schnellen Entscheidungsmechanismen gebe, um die Soldaten auch einzusetzen.