EU-Hilfen für Italien: Gut gemeint, schlecht genutzt?
11. Januar 2021Wenn es nach Italiens Regierungschef Giuseppe Conte geht, dann soll ein Expertenrat aus Managern und nicht das Parlament in Rom über die Verwendung der rund 209 Milliarden Euro Corona-Hilfen aus Brüssel entscheiden. Die EU-Gelder sollen dem von der Corona-Pandemie schwer getroffenen Land wirtschaftlich wieder auf die Beine helfen. Doch außer groben Absichtserklärungen ist noch völlig unklar, wie die Mittel genau eingesetzt werden. Wiederholt hat Matteo Renzi, Chef der Partei Italia Viva, damit gedroht, die Koalition platzen zu lassen, wenn nicht mehr Gelder in innovative Projekte fließen. Seit September 2019 bilden die populistische Fünf-Sterne-Bewegung und die Sozialdemokraten (PD) sowie die Kleinparteien Italia Viva (Italien lebt) und Liberi e Uguali (Die Freien und Gleichen) eine Regierungskoalition, die eher eine Not- als eine Wertegemeinschaft ist.
Renzi war von 2014 bis 2016 selbst Ministerpräsident, war aber nach dem Scheitern einer von ihm angeschobenen Verfassungsreform zurückgetreten. Renzi bemängelt aktuell, dass viel zu wenig EU-Gelder für die Stärkung des Gesundheitssektors vorgesehen sind und zukunftsweisende Investitionen zu kurz kommen. "Renzis Kritik ist zwar sicherlich auch machtpolitisch getrieben, dennoch spricht er ein wichtiges Problem an. Die EU wird in den nächsten Jahren Geld mit vollen Händen ausgeben, hat sich aber viel zu wenig Gedanken über eine wirkungsvolle Steuerung gemacht", sagt Friedrich Heinemann im Interview mit der DW. Für den Europa-Experten am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ist die Gefahr groß, dass die EU-Hilfen wirkungslos verpuffen.
Verlorene Jahrzehnte, vergeudete EU-Hilfen?
Das Wettrennen der Lobbyisten in Italien um die "politisch opportunsten neuen Ausgabenprogramme" sei besorgniserregend. "Die Gefahr ist groß, dass das italienische Aufbauprogramm de facto nur der Ausweitung des staatlichen Sektors und der Sozialleistungen dient, aber das Land nicht voranbringt", warnt Heinemann.
Eigentlich sollen mit den EU-Hilfsgeldern, die zum ersten Mal über die Aufnahme gemeinsamer Schulden finanziert werden, die Weichen für eine wirtschaftliche Renaissance Italiens in den kommenden Jahrzehnten gestellt werden.
85 Milliarden Euro bekommt Italien geschenkt, 124 Milliarden Euro fließen als zinsgünstige Kredite. Ökonomen sehen die EU-Finanzspritzen in Rekordhöhe mit dem ambitionierten Namen Next Generation EU als letzte Chance, Italiens Dauerkrise zu überwinden. Denn das hoch verschuldete Mittelmeerland leidet unter einer stagnierenden Wirtschaft, deren Bruttoinlandsprodukt nach vorläufigen Berechnungen der Zentralbank in Rom im Corona-Jahr auf das Niveau von 1998 abgestürzt ist. Mit rund 2,5 Billionen Euro ist kein EU-Mitgliedsstaat so hoch verschuldet wie Italien und nur wenige Länder weltweit haben einen noch größeren Schuldenberg.
Liste mit Brüsseler Lieblingsthemen
Auf den ersten Blick tauchen im Investitionsprogramm von Regierungschef Conte so gut wie alle Schwerpunkte auf, die auch auf der Agenda der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen stehen. Da gibt es die grüne Revolution und ökologische Transition genauso wie die Förderung von Digitalisierung, Innovation, nachhaltiger Mobilität und Geschlechtergerechtigkeit. Selbst das in Brüssel so beliebte Thema der Kohäsion ist vertreten; in Contes Planungen ist es für die Finanzierung des "sozialen und territorialen Zusammenhalts" in Italien vorgesehen. Weil Giuseppe Conte aus dem armen Süden Italiens stammt, der seit einer gefühlten Ewigkeit am Subventionstropf der Zentralregierung hängt, sind vor allem viele Menschen im wirtschaftlich starken Norden und der Mitte Italiens skeptisch, wenn es um die Verwendung der Milliarden geht.
In Anspielung auf die antike Vergangenheit des Südens als griechische Kolonie Magna Graecia, Großgriechenland, nennen noch heute manche Nord-Italiener ihre Landsleuten im Süden, abschätzig Greci, Griechen. Seit Jahrzehnten sind Milliardensummen im Süden versickert, ohne spürbaren wirtschaftlichen Erfolg. Wie soll da ein "Grieche" wie Guiseppe Conte aus Apulien, Gelder sinnvoll einsetzen, fragen sich viele Menschen etwa in der Wirtschaft- und Finanzmetropole Mailand.
Soweit würde Ökonomie-Professor Roberto Perotti von der Bocconi-Universität in Mailand nicht gehen, aber auch er zeichnet ein düsteres Szenario: "Es besteht ein enormes Risiko, dass wir unfähig sind das Geld auszugeben oder dass wir es verschwenden. In diesem Fall steuern wir in ein paar Jahren auf eine Finanzkrise zu", warnte er im September gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Gefahr einer neuen Finanzkrise bei Misserfolg
Dann nämlich würden internationale Investoren, so befürchtet Perotti, wieder verstärkt auf die horrenden Auslandsschulden Italiens blicken und an den Finanzmärkten massiv gegen Rom spekulieren.
Wegen seiner ineffektiven Bürokratie nutzt Italien noch nicht einmal die Hälfte der von Brüssel bewilligten EU-Gelder. Besonders die Verwaltung im Süden scheint nicht imstande zu sein, EU-konforme Projekt-Anträge in Brüssel zu stellen oder sie umzusetzen.
Luca Bianchi vom privaten Forschungsinstitut SVIMEZ in Rom beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Strukturproblemen des italienischen Südens. Seine Bilanz ist ernüchternd: Er rechnet im Gespräch mit der Zeitung Welt am Sonntag vor, dass allein 2019 den Regionen südlich von Latium, in der die Hauptstadt Rom liegt, rund zwei Prozent der Wirtschaftsleistung verloren gegangen sind. Der Grund: Die schlecht funktionierende Verwaltung zwischen Neapel und Palermo hatte bereits bewilligte Gelder aus EU-Strukturfonds nicht rechtzeitig abgerufen.
Ein Blick in die Statistik der EU-Kommission lässt auch jetzt Skeptiker daran zweifeln, dass Italien die Chance zur Modernisierung des Landes nutzen kann. Zwischen 2014 und 2020 wurden in ganz Italien nur rund 40 Prozent der von Brüssel für Projekte bewilligten Mittel ausgegeben. Damit landet Italien in der EU auf einem der hinteren Plätze.
Hightech-Olivenpressen und Subventionen für Heizungen
Die Bandbreite der italienischen Next Generation-Förderprojekte reicht von der Entwicklung von Wasserstoff-Autos über Hightech-Olivenpressen bis hin zu Infrastrukturprojekten im Mezzogiorno, dem armen Süden des Landes. Bisher wurde schon der Autokauf mit mehreren Tausend Euro gefördert, ganz gleich ob elektrisch oder mit Diesel angetrieben. Und Immobilienbesitzer können sich die Kosten für moderne Heizungsanlagen vom Staat zurückholen.
Friedrich Heinemann überzeugen auch die aktuellen Pläne der Regierung Conte für die EU-Milliarden nicht. "Was ich bisher lese, stimmt mich wenig optimistisch. Die Engpassfaktoren für eine bessere wirtschaftliche Entwicklung Italiens sind seit langem bekannt: Das Bildungssystem bereitet junge Menschen nicht auf die moderne und digitale Arbeitswelt vor. Das schwächt auch die Unternehmen, die weitgehend ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt haben. Die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte sind überreguliert”, unterstreicht der ZEW-Forscher.
"Der öffentliche Dienst ist überdimensioniert und die Rekrutierung von Personal erfolgt immer noch eher nach Beziehungen denn nach Leistung. Der Sozialstaat ächzt unter hohen Leistungen für Renten, versagt aber bei der wirkungsvollen Armutsbekämpfung.”
"Kollektive Verdrängung realer Probleme"
Hinzu komme die völlige Transferabhängigkeit Süditaliens und die dort grassierende Korruption. Nichts sei in den Konzepten enthalten, um etwas gegen diese seit langem bekannten Schwächen Italiens zu unternehmen, kritisiert ZEW-Experte Heinemann. Er habe von all diesen Themen in den italienischen Corona-Programmen "eigentlich überhaupt nichts” gelesen.
"Ein EU-finanziertes Solardach in Italien sorgt für schöne Fotos und begeistert vielleicht EU-Beamte. Dieses Dach wird den ökonomischen Niedergang Italiens aber in keiner Weise aufhalten können. Im Grunde beobachten wir eine kollektive Verdrängung der realen Probleme.”
Für Friedrich Heinemann war es ein Fehler, den Milliarden-Geldsegen des Next Generation-Programms nicht mit konkreten Reformauflagen zu verknüpfen. Jetzt laufe es darauf hinaus, dass die geballte Ineffizienz in Italien in den kommenden Jahren mit EU-Geldern nur übertüncht, statt beseitigt wird. "Wenn nicht entschieden nachgesteuert wird, könnte das EU-Coronapaket politökonomisch sogar das Gegenteil von dem bewirken, was es beabsichtigt", warnt der Mannheimer Ökonom. "Es mindert derzeit den Reformdruck in den großen Empfängerländern. Statt die unpopulären, aber notwendigen Reformaufgaben anzugehen, wächst jetzt sogar die öffentliche Verwaltung weiter und das Strohfeuer der EU-Subventionen suggeriert, dass harte Einschnitte nicht nötig seien."