Hahn: "Risiko, dass auf dem Balkan etwas passiert"
17. März 2017Deutsche Welle: Die Demokratisierungsprozesse auf dem westlichen Balkan stocken, der wirtschaftliche Aufschwung geht nur schleppend voran, und in letzter Zeit mehren sich zwischenstaatliche und zwischenethnische Spannungen. Die EU engagiert sich mit dem so genannten Berlin-Prozess, um die Länder an die EU heranzuführen. Bei einem Treffen der sechs Regierungschefs der Region haben Sie am Donnerstag in Sarajevo vorgeschlagen, für den westlichen Balkan einen gemeinsamen Markt aufzubauen. Ist das der richtige Weg, um die Spannungen und Entfremdungen abzubauen?
Johannes Hahn: Ja, es ist das richtige Mittel. Der ganze Berlin-Prozess folgt ja der Idee des europäischen Prozesses. Die Europäische Union hat dazu geführt, dass nachhaltig Friede auf diesem Kontinent eingekehrt ist. Und der einzige Bereich, wo in Europa dieser Friede noch nicht hundertprozentig hergestellt ist, ist der Balkan. Der Berlin-Prozess folgt der Gründungsidee der EU, durch eine intensive Zusammenarbeit davon wegzukommen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Und da gibt es verschiedene Bereiche: Der Verkehrsbereich ist einer, wo man allein durch den Umstand, dass man Autobahnen baut, die Länder miteinander verbindet, ebenso Eisenbahnlinien. Das führt zu einer verstärkten gegenseitigen Abhängigkeit. Und wenn ich jetzt einen gemeinsamen Markt habe, dann kann ich genau die Ziele verfolgen, nämlich zunächst einen Beitrag zur Befriedung zu leisten, gleichzeitig auf eine europäische Integration vorzubereiten. Es hat kurz- und langfristige Perspektiven.
Gegen Ihren Vorschlag gibt es Widerstand aus Montenegro und Kosovo.
Wir müssen natürlich Überzeugungsarbeit leisten. Man muss in Vorbereitung des nächsten Gipfeltreffens in Triest klarzustellen, was wirklich der gemeinsame Markt bedeutet. Und dann werden auch die Skeptiker feststellen, dass er in ihrem Interesse ist. Wenn man etwa in Montenegro denkt, dass die Beitrittschancen Montenegros darunter leiden, muss man erklären, dass das keineswegs so ist, im Gegenteil. Das wird dem Land, obwohl es heute schon am weitesten fortgeschritten sind, neuen Schwung geben. Montenegro wird möglicherweise sogar mehr profitieren als die anderen Länder.
Leistet das Modell dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten Vorschub, weil der westliche Balkan sich dann mit einem besonderen Status arrangiert?
Ich bin persönlich ein Gegner eines Europas von zwei oder mehr Geschwindigkeiten. Wenn man das verfestigt, wird es schwer, das wieder aufzulösen. Und daher bin ich eher dafür, sich anzustrengen, dass die, die nachhängen, aufholen. Abgesehen davon kennen wir ja schon die Form der verstärkten Zusammenarbeit. Das kann man vielleicht in manchen Fällen auch stärker nutzen, aber ich warne davor, solche Dinge zu institutionalisieren.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist das eine. Doch die EU ist auch eine Wertegemeinschaft. Hier gibt es bei den Westbalkanstaaten noch erhebliche Defizite. Besonders die führenden Politiker stehen in der Kritik.
Es ist richtig, dass wir in vielen Ländern Politiker haben, die schon viele Jahre da sind und dass es für sie aus verschiedenen Gründen schwierig ist, sich zu ändern. Aber sie alle wollen, soweit ich das überblicke, noch weitermachen. Und sie verstehen, dass sie sich ändern müssen, wenn sie wiedergewählt werden wollen. Angesichts einer Situation, dass gerade die jungen, dynamischen Leute weggehen, dass wir eine hohe Arbeitslosenrate haben, dass wir eine noch höhere Jugendarbeitslosenrate haben und dass Leute frustriert sind, verstehen sie, dass sie Dinge ändern müssen, damit sie auch in Zukunft die Unterstützung der Bevölkerung haben. Und meine These ist, die ich nicht nur hier auf dem Balkan anwende, sondern auch in Osteuropa und in den südlichen Nachbarländern, dass ich die wirtschaftliche Attraktivität nur steigern kann, wenn die rechtsstaatliche Sicherheit zunimmt.
Meinen Sie, dass ein Wandel ohne Elitenwechsel möglich ist?
Ich habe gerade mit jungen Leuten gesprochen und gesagt, ihr müsst Euch auch politisch engagieren! Denn wenn Ihr Euch nicht engagiert, tun das andere. Und dann treffen andere die Entscheidungen, die Euch betreffen. Ich glaube, gerade bei den Jungen beginnen die Dinge aufzubrechen. Und viele von denen beginnen zu verstehen, dass es wahrscheinlich innerhalb der traditionellen Strukturen nichts bringt, sich zu engagieren, also schaffen sie etwas Neues. Und darauf zähle ich auch, und das unterstützen wir.
Vielerorts ist vermehrt russische Einflussnahme bemerkbar, auch die Türkei ist aktiv - die Attraktivität der EU aber sinkt.
In Serbien liegt der Zuspruch zur Europäischen Union bei 52 Prozent, in den anderen Ländern bei rund 75 Prozent. In Albanien liegt er bei 90 Prozent. Da müssen wir auch selbstbewusster sein, was natürlich nicht heißt, dass wir nicht auch selbstkritisch sein sollten. Unser Problem ist, das wir als jemand auftreten, der Bedingungen stellt. Und wenn einer Bedingungen stellt und Reformen einfordert, ist das nicht immer bequem. Deshalb sind auch die Initiativen wie der gemeinsame Markt oder die Verdoppelung des Budgets für Erasmus-Stipendien richtig. Das alles zielt ja darauf ab, dass die Leute den Mehrwert erkennen.
Wie erklären Sie die Notwendigkeit Ihres Engagements für die Westbalkan-Staaten in der EU?
In Europa müssen sie verstehen, dass der Balkan immer noch eine Region der Instabilität ist mit einem vergleichsweise hohen Risiko, dass etwas passiert. Und wenn etwas passiert - das haben wir vor 20 Jahren erlebt -, kommt es zu einer erheblichen Migrationswelle. Und dann gibt es keinen Filter mehr. Welche Balkanroute wollen Sie dann schließen, wenn es von dort ausgeht? Die haben keine langen Anfahrtswege, um in Europa zu sein. Das ist das Negative. Das Positive ist, dass das eine Wachstumsregion ist, die erhebliches Potential hat. Und wenn man diesen Markt bearbeiten kann, ist das gut für die Arbeitsplätze zu Hause. Wir als EU haben ein Interesse an Stabilität in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Das kann man mit einem einfachen Satz zusammenfassen: Entweder ich exportiere Stabilität, oder ich importiere Instabilität. Das fängt auf dem Balkan an und gilt für die östliche und die südliche Nachbarschaft.
Das Gespräch führte Adelheid Feilcke
Johannes Hahn ist seit 2014 EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen. Zuvor war er EU-Kommissar für Regionalpolitik in der Kommission Barroso.