Die "Festung Europa" wird ausgebaut
27. Dezember 2022Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat eine große Flüchtlingsbewegung Richtung Westen ausgelöst. Rund 4,8 Millionen Menschen hat das UN-Flüchtlingshilfswerk bis Anfang Dezember hauptsächlich im Osten der EU, in Polen, Deutschland, im Baltikum, in Rumänien und der Slowakei als temporär Schutzsuchende registriert. Im nächsten Jahr könnte die Zahl je nach Kriegsverlauf noch weiterwachsen.
"Wir haben hier die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg", sagte die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, Mitte Dezember in Brüssel. "Wir werden die Menschen weiter unterstützen. Wir meistern diese Krise gemeinsam." Allerdings klagen einige Staaten in der EU bereits über Überforderung, auch in Deutschland fürchten Bund und Gemeinden Schwierigkeiten bei der Unterbringung. Ylva Johansson wird 2023 alle Hände voll zu tun haben, die Einigkeit der Mitgliedsstaaten aufrechtzuerhalten, denn die Kriegsflüchtlinge werden bislang nicht nach irgendeinem Schlüssel verteilt, sondern können sich mit einem besonderen Schutzstatus ohne Asylverfahren frei in der EU bewegen.
Ungelöste Probleme im Süden
Die Sorge um die Menschen aus der Ukraine hat den Blick auf wachsende Migrationsbewegungen im Südosten der EU etwas verstellt. Im abgelaufenen Jahr sind die Zahlen der Asylsuchenden aus Syrien, Afghanistan, Pakistan oder Ägypten und die Zahl der nicht regelgerechten Grenzübertritte stark angestiegen. Die Grenzschutzagentur Frontex registrierte bis zum Oktober rund 280.000 irreguläre Einreisen. Das sind 77 Prozent mehr als im Jahr 2021. Es ist die höchste Zahl seit dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016, Dunkelziffer unbekannt.
Und es geht weiter: Frontex rechnet in seiner "Risikoanalyse" für die nächsten Jahre bis 2032 damit, dass der Migrationsdruck weiter ansteigen wird. "Die aktuellen Migrations- und Flüchtlingskrisen an der südlichen und östlichen EU-Grenze zeigen an, dass die EU höchstwahrscheinlich mehr von diesen Ereignissen erleben wird. Das Zusammenspiel von komplexer Geopolitik, einer turbulenten Sicherheitslage und den Trends in einer feindlicher werdenden multipolaren Welt wird zu Umwälzungen führen, die viele Regionen und Herkunftsstaaten grundlegend verändern", heißt es in dem Frontex-Bericht. Da die Migrationsbewegungen die Sicherheit der europäischen Außengrenzen massiv bedrohen würden, empfiehlt die Europäische Grenzschutzagentur in Warschau eine umfassende Vorsorge, um den Grenzschutz zu verstärken.
"Festung Europa" ohne funktionierende Regeln
Die zuständigen Innenminister und Innenministerinnen der Europäischen Union nehmen die Warnungen von Frontex ernst und versprachen beim letzten Treffen des Jahres in Brüssel, die bislang fruchtlosen Anstrengungen 2023 wieder einmal zu verstärken. Die schwedische Ratspräsidentschaft der EU soll im ersten Halbjahr 2023 Reformen des Asylsystems und des Grenzmanagements vorantreiben, über die sich die Minister seit Jahren nicht einig werden.
Der Grundkonflikt zwischen den Staaten, die den Zugang für Migranten weiter einschränken wollen, und solchen, die noch aufnahmebereit sind, wird wohl auch 2023 nicht gelöst werden können. Denn die Aufnahmebereiten fordern von den Befürwortern einer "Festung Europa" Solidarität und Entlastung, die es jedoch kaum gibt. Das führt dazu, dass Länder der Ersteinreise wie Griechenland, Italien, Spanien, Ungarn oder Kroatien die Migranten und möglichen Asylbewerber weiterziehen lassen Richtung Norden. Österreich und Deutschland beklagen deshalb, das bei ihnen Zehntausende Menschen Asylanträge stellen, die sie eigentlich in den Staaten ihrer ersten Einreise stellen müssten.
Ein neues System der Solidarität?
Die sogenannten Dublin-Regeln, nach denen der Staat der ersten Einreise zuständig ist, funktionieren nicht. Die EU-Kommission hat diverse Vorschläge für Reformen vorgelegt. Von den mittlerweile zehn Gesetzentwürfen werden erst drei tatsächlich ernsthaft beraten. Im kommenden Jahr sollen nach den Worten der zuständigen EU-Kommissarin Ylva Johansson weitere Gesetze verabschiedet werden, um ein System aus Verantwortung und Solidarität in der EU-Migrations- und Asylpolitik endlich zu etablieren.
Ein freiwilliges System zur Verteilung von Asylbewerbern aus Ersteinreisestaaten auf restliche EU-Staaten ist gerade erst wieder gescheitert, weil Frankreich sich mit der neuen rechtsradikalen Regierung in Italien nicht einigen kann. Die Regierung in Rom zielt darauf ab, überhaupt keine Migranten mehr an Land zu lassen und eine Art Seeblockade gegenüber Libyen und Tunesien im südlichen Mittelmeer zu organisieren. Das halten viele andere EU-Staaten aber nicht für praktikabel und rechtlich fragwürdig.
Zurückweisungen an Außengrenzen
Rechtlich fragwürdig sind auch die Praktiken, die sich entlang der sogenannten Balkan-Route herausgebildet haben. An den EU-Außengrenzen Ungarns, Kroatiens, Griechenlands und Bulgariens soll es immer wieder zu sogenannten "pushbacks" von Migranten kommen, also gewaltsames Zurückschieben von Menschen, die bereits EU-Territorium erreicht hatten. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll, so die Vorwürfe von Medien und Flüchtlingsorganisationen, Kenntnis von diesen pushbacks haben und wegschauen. Der Chef von Frontex musste deshalb im Frühjahr zurücktreten. Ein Nachfolger ist noch nicht bestimmt.
Auf der Balkan-Route über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Bosnien, Kroatien, und Ungarn kommen derzeit die meisten Migranten und Asylsuchenden. Die EU hat deshalb den Westbalkan-Staaten mehr Hilfe und Beratung beim Schutz der Grenzen angeboten. Außerdem sollen Staaten wie Serbien ihre Visa-Politik ändern, weil Menschen aus Pakistan visafrei nach Serbien einreisen können und von dort versuchen, in die EU einzureisen. Nancy Faeser, die Innenministerin Deutschlands, sagte zur Strategie auf dem Balkan: "Wir sind uns einig, dass wir den Außengrenzen-Schutz verstärken müssen und dass es nur ein gemeinsames Handeln der EU geben kann, um die großen Themen zu lösen."
Schengen-Erweiterung stockt
Besonders kritisch wird das Migrationsproblem in Österreich gesehen, das, obwohl es von EU-Staaten umgeben ist, fast 100.000 Asylanträge im ablaufenden Jahr verzeichnet hat. Ungarn, das eine EU-Außengrenze hat, hatte nur 50 Asylanträge zu bearbeiten. Der Innenminister von Österreich, Gerhard Karner, vermutete deshalb, dass etwas nicht stimmen könne. Es könne nicht sein, dass Asylsuchende aus dem Süden der EU offenbar einfach nach Norden weiterziehen und Asylanträge dort stellten, wo es ihnen passe, so Karner.
Das führe dazu, dass Österreich, Deutschland und andere ständige Grenzkontrollen durchführen müssten, die es in den Staaten des Schengen-Gebietes, ja eigentlich nicht mehr geben soll. "Wir haben an vielen Stellen in Europa derzeit Kontrollen an den Binnengrenzen. Österreich Richtung Ungarn. Deutschland Richtung Österreich. Tschechien Richtung Slowakei. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass das System an vielen Enden derzeit nicht funktioniert", kritisiert Minister Karner. Deshalb blockiert Österreich die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in das Schengen-System.
"Ich halte es für falsch, dass ein System, das an vielen Stellen nicht funktioniert, auch noch erweitert wird", sagte Gerhard Karner dazu. Mit dieser Position steht Österreich allerdings in der EU ganz alleine da. Deshalb soll 2023 erneut versucht werden, die Regeln im Schengen-Raum ohne systematische Grenzkontrollen zu modernisieren. Ziel ist es, die temporären Grenzkontrollen wegen der Migrationsbewegungen abzuschaffen und auch Bulgarien und Rumänien zu integrieren. Kroatien schafft diesen Schritt bereits am ersten Januar.
"Dramatische Situation"
Die pushbacks, also die Verweigerung von Asylverfahren und der vorübergehenden Aufnahme von Flüchtlingen, passieren nicht nur auf der Balkanroute, sondern auch in Polen und Litauen. Dort argumentieren die Behörden, die ankommenden Menschen würden von Belarus gezielt als Druckmittel an die Grenze gebracht. Ein Vorstoß Polens und anderer Staaten, diese "Instrumentalisierung" von Migranten zum Anlass zu nehmen, um das Asylrecht in der EU vorübergehend auszusetzen, hatte keinen Erfolg. Noch nicht.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus kritisiert den Zustand der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik scharf. Er sieht eine "dramatische Situation in der EU", denn die Europäer hätten zwar Konventionen zu Menschenrechten und Asyl unterschrieben, würden sie aber seit 2021 nicht mehr einhalten, sagte Knaus im Dezember dem österreichischen Fernsehsender "puls 24". Knaus plädiert für mehr Migrationsabkommen mit Herkunftsländern, um den Druck abzubauen und Menschen von irregulärer, weil oft aussichtsloser Migration abzuhalten. Die bisher zähen Verhandlungen mit Herkunftsländern wie Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Syrien und anderen bleiben eine weitere kniffelige Aufgabe für die EU im Jahr 2023.