EU-Parlament: Ungarn ist "Wahlautokratie"
15. September 2022Eine große Mehrheit im europäischen Parlament sieht die Demokratie in Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orban ernsthaft beschädigt und dringt auf eine Kürzung der EU-Mittel für Budapest. Unter Experten herrsche zunehmend Einigkeit darüber, dass das osteuropäische Land "keine Demokratie mehr" sei. Die Situation habe sich derart verschlechtert, dass Ungarn sich "zu einem hybriden System der Wahlautokratie" entwickelt habe, heißt es in einer Entschließung des Parlaments.
Mit 433 gegen 123 Stimmen nahmen die Abgeordneten die Vorlage an, in der das Risiko eines ernsthaften Bruchs jener Werte betont wird, auf denen sich die Europäische Union gründe. Allerdings trage die EU-Kommission eine Mitverantwortung, weil sie hiergegen nicht rechtzeitig und entschlossen genug vorgegangen sei. Das Parlament appellierte an die Brüsseler Behörde, alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente voll auszuschöpfen.
Orbans Fidesz-Partei wies die Vorwürfe zurück und konterte, das EU-Parlament sei mehr daran interessiert, Ungarn zu beschimpfen, als die gegenwärtige Wirtschaftskrise zu meistern. Außenminister Peter Szijjarto sprach von einer "Beleidigung".
Bargeld nicht ohne Demokratie
Es wird damit gerechnet, dass die Kommission in Kürze empfehlen wird, die für Ungarn vorgesehenen Milliardenbeträge aus dem gemeinsamen Haushalt der EU für 2021 bis 2027 zu großen Teilen auszusetzen. Für Budapest geht es um Gelder, deren Höhe einem Zehntel des ungarischen Bruttoinlandsprodukts entsprechen könnten.
Sollten die Zahlungen tatsächlich verweigert werden, wären dies die ersten Sanktionen nach den EU-Richtlinien, die Geldflüsse an Rechtsstaatlichkeit koppeln. Diese wurden vor zwei Jahren als Reaktion auf die Abkehr Ungarns und Polens von demokratischen Grundsätzen beschlossen.
Sechs Milliarden Euro blockiert
Die Europäische Kommission hat bereits rund sechs Milliarden Euro an Corona-Hilfen blockiert, die Ungarn erhalten sollte. Sie wirft Budapest unter anderem Korruption, Interessenkonflikte und massive Probleme bei der öffentlichen Auftragsvergabe und der Parteienfinanzierung vor. Dahinter steht der Verdacht, eine Clique um Regierungschef Orban bereichere sich zum Schaden des gemeinsamen EU-Haushalts.
Mittelkürzungen können allerdings nur die EU-Staaten beschließen. Dafür ist eine qualifizierte Mehrheit nötig, also mindestens 15 Länder, die 65 Prozent der europäischen Bevölkerung vertreten. Nach einem Bericht des Onlinemediums "Politico" will die Kommission Orban eine Hintertür offenhalten, wenn dieser doch noch Reformen umsetzt. Vor gut einer Woche hatte die Regierung in Budapest angekündigt, eine unabhängige Anti-Korruptions-Behörde einzurichten, die Unregelmäßigkeiten aufdecken soll. Deren Befugnisse sind aber weiterhin unklar.
Ungarn ist bisher das einzige Land, gegen das ein Verfahren nach dem sogenannten Rechtsstaatsmechanismus läuft, der den Missbrauch von Geldern aus dem EU-Haushalt verhindern soll. Ein Vorschlag der Kommission, Mittel zu kürzen, wäre der nächste mögliche Schritt.
jj/hf (dpa, afp, rtr)