EU wagt neuen Anlauf bei der Migration
3. Februar 2022Es ist ungewöhnlich, dass der Staatschef eines Landes, das die EU-Präsidentschaft innehat, bei einem Treffen von Fachministern auftaucht. Darum überraschte der französische Präsident Emmanuel Macron die Innenminister der EU, als er am Vorabend ihres informellen Treffens in Lille eine programmatische Rede zur komplexen Migrationspolitik in der Union hielt.
Mit der Autorität seines Amtes konnte Macron als derzeitiger Ratspräsident der EU offenbar überzeugen. Er brachte Bewegung in die seit Jahren festgefahrenen Diskussionen um Asylrecht, Grenzschutz und Abschiebungen. Nach Angaben von Teilnehmenden der Ministertagung widersprach kein Mitgliedsland dem ehrgeizigen Zeitplan Macrons. Bis Ende Juni soll das sogenannte Screening für Asylsuchende an den EU-Außengrenzen beschlossen werden. Damit sind eine Sicherheitsüberprüfung und eine grobe Vorprüfung des Asylbegehrens gemeint.
Migranten, die offensichtlich keine Chance auf Asyl haben, sollen unmittelbar an den Außengrenzen abgewiesen werden. Außerdem soll die gemeinsame Datenbank EURODAC, die die Fingerabdrücke von Einreisenden erfassen wird, nach jahrelanger Verzögerung endlich beschlossen werden. Mittelfristig sollen dann die kompletten Asylverfahren an den Außengrenzen abgewickelt werden. Dafür wären mehr geschlossene Lager für Migranten notwendig, wie sie jetzt auf den griechischen Ägäis-Inseln von der EU eingerichtet werden. Staaten der Ersteinreise wie Italien, Spanien, Frankreich oder Kroatien hatten solche Lager auf ihrem Gebiet bisher abgelehnt.
Neuer Schwung
Die Vorschläge, die Frankreich auf den Tisch legte, sind nicht völlig neu. Macron plädiert aber für ein abgestimmtes Vorgehen in Einzelschritten. Parallel dazu sollen sich möglichst viele Staaten in einer sogenannten "Koalition der Willigen" freiwillig bereitfinden, Asylsuchende aufzunehmen, die an den Außengrenzen ankommen. Gleichzeitig sollen sich Staaten wie Österreich, Ungarn oder Polen, die keine Migranten aufnehmen wollen, finanziell an den Lasten beteiligen.
Die EU-Kommissarin für Migration und Innenpolitik, Ylva Johansson, beeilte sich in Lille zu versichern, dass sie die Vorschläge von Präsident Macron sehr gut finde, weil sie nämlich alle schon im sogenannten Migrationspakt enthalten sind, den die EU-Kommission vor zwei Jahren vorgestellt hatte.
Seit Jahren streiten die EU-Mitglieder über sieben Gesetze, die die Flüchtlingspolitik und das Migrationsmanagement, das sei 2015 nicht mehr funktioniert, neu regeln soll. Jetzt gibt es die Aussicht, dass diese Gesetze nach und nach verabschiedet werden können, heißt es von EU-Diplomaten. "Wir haben neuen Schwung. Jetzt muss auch gehandelt werden", mahnte EU-Kommissarin Ylva Johansson.
Deutschland setzt auf Solidarität
Die neue deutsche Innenministerin, die Sozialdemokratin Nancy Faeser, war in Lille ebenfalls voll des Lobes für die französische Initiative. "Deutschland wird an der Seite des französischen Vorschlags stehen", versprach Faeser und kündigte ein Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich an, um das Asylrecht in beiden Staaten anzugleichen. Es solle eine "neue Solidarität" in Europa geben. Faeser hatte schon vor Emmanuel Macron vorgeschlagen, eine "Koalition der Willigen" zu bilden, die freiwillig Flüchtlinge und Asylbewerber aus den Staaten an den EU-Außengrenzen aufnehmen.
Der französische Staatspräsident sieht zwölf EU-Staaten als freiwillige Aufnahmestaaten an. Diese Zahl sei "optimistisch", sagte die Bundesinnenministerin und wollte sie nicht so recht bestätigen. Eine ähnliche Initiative ihres Amtsvorgängers Horst Seehofer auf Malta im Jahr 2019 scheiterte. Es blieb damals bei vier Aufnahmestaaten: Frankreich, Italien, Malta und Deutschland. Die auch damals angestrebte Zahl von zwölf "Willigen" wurde nie erreicht. "Deutschland steht weiter für ein offenes Europa", sagte Nancy Faeser. Andere Staaten wie Polen, Litauen oder Ungarn setzen eher auf möglichst dichte Grenzen und Abschottung.
EU bekommt einen Schengen-Rat
Mit einen Teil seiner Initiative konnte sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron überraschend schnell durchsetzen. Die Innenministerinnen und Innenminister beschlossen die Gründung eines Schengen-Rates. Die Minister aus den 22 EU-Ländern, in denen Reisen ohne Personenkontrollen an den Binnengrenzen möglich sind, sollen sich künftig regelmäßig treffen. Im Rat der Schengen-Zone sollen sie dann zusammen mit ihren Ressortkollegen aus der Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island über Migrationsfragen, Abwehr von Terrorismus und zeitweise notwendige Grenzkontrollen oder -schließungen beraten.
Der Schengen-Rat soll so ähnlich funktionieren wie die Eurogruppe, die die Fiskal- und Wirtschaftspolitik in der Währungsgemeinschaft steuert. Der neue Rat soll bereits Anfang März das erste Mal tagen. Ein von Emmanuel Macron ebenfalls angeregter Koordinator oder Vorsitzender des Schengen-Rats wurde noch nicht bestimmt. Die EU-Kommission begrüßt die Einrichtung des Rates im Prinzip. Er solle aber nicht außerhalb des EU-Rechts agieren, sondern Teil des Ganzen sein, regte der zuständige EU-Kommissar Margaritis Schinas an.
Mehr Zäune?
Noch sind aber nicht alle Probleme gelöst. Noch vor zwei Wochen hatten 16 EU-Länder bei einer Konferenz in Litauen für eine viel striktere Befestigung und Überwachung der EU-Außengrenzen plädiert. Der österreichische Innenminister Gerhard Karner warb in Lille statt für eine "Koalition der Willigen" für eine "Allianz der Vernunft". Es könne nicht darum gehen, noch mehr Flüchtlinge in Europa aufzunehmen. Viel wichtiger sei ein Schutz der Außengrenzen, sagte Karner mit Blick auf die Migranten, die in den vergangenen Monaten über Belarus nach Polen oder Litauen einreisen wollten. 16 EU-Mitglieder, darunter Österreich und Polen, fordern, dass die EU Zäune, Befestigungen und Personal an den Außengrenzen bezahlt. Die EU-Kommission lehnt das bislang ab.
Am Rande: die Ukraine-Krise
Die Innenminister diskutierten auch über die derzeitige Krise rund um die Ukraine. Bei einem eventuellen Einmarsch Russlands könnte es zu größeren Flüchtlingsbewegungen in Richtung Westen, in Richtung EU kommen. Die private Hilfsorganisation Norwegischer Flüchtlingsrat warnte, dass etwas zwei Millionen Menschen in dem Gebiet einer möglichen russischen Invasion im Osten der Ukraine lebten. Sie seien schon jetzt schwer belastet und auf humanitäre Hilfe angewiesen, sagte der Generalsekretär des Flüchtlingsrates, Jan Egeland. "Das menschliche Leid durch einen erneuerten Konflikt wäre grenzenlos. Das würde viele zivile Opfer, Vertreibung und einen steigenden Bedarf an humanitärer Hilfe bedeuten." Ob und wie sich die EU auf eine solche Lage vorbereitet, blieb in Lille beim Treffen der Innenminister unklar.