Zwischen Widerstand und Desinteresse
23. Mai 2019Zwischen sieben und zehn Uhr morgens sind nur 107 Wähler in die Sozialstation in der Marchmount Street im Bezirk Camden gekommen, berichtet der Wahlbeobachter von der Labour Party. Das ist ziemlich spärlich. Viele Leute haben sich gefragt, warum sie dieses Mal überhaupt wählen sollen. Der Bezirk ist eigentlich eine traditionelle Labour Hochburg. Ein Wahlbeobachter mit roter Rosette, der anonym bleiben will, schimpft sehr über seine Partei. "Man kann doch bei der Brexitfrage nicht in beide Richtungen schauen, das ist aber genau das, was Jeremy Corbyn macht". Er könne nicht gleichzeitig die Brexiteers und die Europa-Anhänger bedienen. Am Ende seien beide Seiten frustriert über die Unentschiedenheit.
Die Labour Party ist im Eimer
Traditionell gehen die Mitglieder der größeren Parteien durch die Wahlbezirke und suchen das Gespräch mit den Wählern an der Schwelle zur Haustür. Dieses Mal aber seien sie von "Remainern", die in der EU bleiben wollten, häufig schon an der Tür abgewiesen worden. "Sie sagen uns, es ist nur für diese Wahlen, manche entschuldigen sich auch", berichten die Aktivisten, aber dies lasse nichts Gutes für die nächsten Wahl zum Unterhaus ahnen. Normalerweise sei das sogenannte Canvassing in der Gegend leicht, aber diesmal war es "schwere Arbeit".
Wenn die Labour Party durch ihre unentschlossene Haltung zwischen einer weicheren Form des Brexit und einem Verbleib in der EU nicht einmal ihre eigenen Hochburgen halten kann, hat sie ein Problem. Eine Bedienung im Café nebenan wird deutlich: "Brexit ist eine dämliche Idee. Die Leute wussten doch nicht, was es bedeutet, und ich habe gewählt, um zu zeigen, dass ich es auf keinen Fall will. Es ist einfach nur blöd." Und was sagt sie zu einem möglichen Sturz von Theresa May? "Sie hatte einen schwierigen Job und sie hat ihn schlecht gemacht. Ihre Zeit ist jetzt wirklich vorbei."
Taktische Entscheidungen
"Normalerweise würde ich Labour wählen, aber dieses Mal stimme ich für Change UK", sagt ein Unidozent auf dem Weg zu einer Vorlesung. Er wolle ein Signal für den Verbleib in der EU senden. Und in diesem Wahlbezirk hätten die Neuen eine Chance, so dass die frischgebackene Partei aus Tory- und Labour-Flüchtlingen vielleicht einen oder zwei Abgeordnete nach Europa schicken könnte. Sie entstand während des politischen Gezerres im Winter, als eine Handvoll EU-Befürworter aus beiden großen Parteien sich gegen den Brexit zusammenschlossen.
Theresa Mays Zukunft liegt für ihn in der Vergangenheit: "Es ist vorbei." Seine Meinung über die Brexit-Partei könnte nicht eindeutiger sein: "Das ist doch eine Truppe von Clowns", sagt er. Sie hätten nur ein Thema und sonst überhaupt kein politisches Programm, und ihre Finanzen seien undurchsichtig und verdächtig.
Zwischendurch kommt eine alte Dame in das Wahllokal. Sie sucht den täglichen Lunch-Club, der sonst hier Essen für die Rentner in der Gegend anbietet. Heute gibt es kein Essen, aber dafür Europawahl. "Was ist das?", fragt sie, schüttelt den Kopf und zieht leise klagend weiter.
Ein Wähler mit US-Hintergrund, längst eingebürgert, sieht beim Brexit Parallelen zu der Wahl von Trump."Es ist der perfekte Sturm, eine Mischung aus diffusem Protest und Unkenntnis." Scunthorpe im Nordosten Englands - dort, wo jetzt British Steel der Bankrott und damit der Untergang von tausenden Jobs droht - sei ein Beispiel hierfür. "Die Arbeiter haben für den Brexit gestimmt, weil sie den Zusammenhang nicht verstehen und sich zurückgelassen fühlen." In den USA sei das ähnlich. Die Farmer hätten dort massive wirtschaftliche Probleme durch Trumps Politik bekommen und glaubten doch, für ihn stimmen zu müssen.
Sieg für die Brexit Party?
Die Brexit-Partei von Nigel Farage, die laut Umfragen bei über 30 Prozent liegt und deshalb auf dem ersten Platz landen könnte, hat ihre Unterstützer vor allem auf dem Land und in kleineren, früheren Industriestädten. Aber auch im multikulturellen London, zu dem die Brexit-Ideologie mit ihren Anti-Migranten- und Anti-Europa-Parolen so wenig zu passen scheint, gibt es Brexiteers. Ein älterer Wähler will mit seiner Stimme für Farage einfach eine Botschaft an die großen Parteien schicken. "Sie sollen das jetzt endlich machen, damit das Leben weitergehen kann." Und warum Brexit? Weil die Briten über sich selbst bestimmen wollten und andere Länder nicht brauchten, meint er.
"Ich habe auch für den Brexit gestimmt", sagt ein junger Mann, der seinen Namen ebenfalls nicht nennen will. Das Parlament aber habe ein totales Durcheinander daraus gemacht. Es könne schon sein, dass es nach dem Abgang von Theresa May mit einem neuen Premierminister zu einem harten Brexit komme. Aber das mache ihm keine Angst, denn Großbritannien sei wirtschaftlich stark genug, um das durchzustehen. "Vielleicht gibt es kurzfristige Folgen, aber mittelfristig werden wir o. k. sein, wir können es allein", ist er sich sicher.
Anhänger der Konservativen waren an diesem Morgen in Camden nicht zu finden. Sie sind sowieso schwach in der Gegend, haben während des Europawahlkampfs generell eher den Kopf in den Sand gesteckt und ihn ignoriert. Vielfach hatte die Partei Schwierigkeiten, überhaupt Kandidaten aufzustellen und nur wenige Mitglieder waren bereit, an den Türen um Stimmen zu kämpfen. Zu feindlich sei die Stimmung bei vielen Wählern angesichts des politischen Stillstands und der internen Kämpfe in Westminster.
Nur Theresa May wollte an diesem Wahltag in ihrem Wahlbezirk in Maidenhead noch einmal rausgehen. Aber nicht einmal hier kann sie noch auf eine Mehrheit hoffen. Ihr Schicksal ist inzwischen eng mit der Europawahl verknüpft. Angesichts der erwarteten vernichtenden Niederlage der Tories, die in den Umfragen auf Platz fünf rangieren, könnte sie sogar gezwungen sein, schon an diesem Freitag ihren Rücktritt anzukündigen. "Ich werde den Brexit liefern", hat May über Monate immer wieder versprochen. Jetzt sieht es so aus, als ob diese Aufgabe an ihren Nachfolger fallen könnte.